Der Boden, auf dem alles begann: Das "2. British Rock Meeting 1972" in Germersheim darf man ruhig als die Mutter aller deutschen Rockfestivals bezeichnen. Mehr als 100 000 Musikfans bevölkern drei Tage lang die Halbinsel Grün am Rhein. Pink Floyd treten auf, Atomic Rooster und der Buddy Miles Express - bei Sonnenaufgang feiern die Massen mit seinem "We've Got To Live Together". Der Traum von Woodstock, endlich ist er in Deutschland angekommen. Trotzdem dauert es 13 Jahre, bis wieder ein mehrtägiges Open Air zugelassen wird.
Das erste Festival nach dieser langen Pause findet im Mai 1985 seinen Platz zwischen Autoreifen und Asphalt: "Rock am Ring" (RaR), eine zweitägige Veranstaltung in der Eifel, die eigentlich als einmaliges Ereignis geplant ist. Sämtliche Versuche, eine größere Musikveranstaltung dauerhaft zu etablieren, sind bis dahin gescheitert. Veranstalter Marek Lieberberg unternimmt nun einen weiteren Versuch.
Ein Open-Air-Konzert an der neueröffneten Rennstrecke Nürburgring, im Schatten einer Burg, mit großen Campingflächen daneben - das lockt 75 000 Menschen an. Das Musikmagazin Rolling Stone kürt das erste "Rock am Ring" Jahrzehnte später zu einem der besten 60 Konzerte aller Zeiten.
18 Bands sind angekündigt, unter anderem Foreigner, Saga, Joe Cocker, Marius Müller-Westernhagen, Huey Lewis und Chris de Burgh als Headliner. Was heute unvorstellbar klingt: U2 spielen als Vorband für de Burgh.
U2-Frontman Bono - mit "Vokuhila", der Frisur des Jahres 1985 - ist der Erste, der die Massen bei "Rock am Ring" eint. Er klettert zu "The Electric Co" mit einem Scheinwerfer in der Hand an einem Bühnenpfeiler hinauf aufs Dach, springt von dort auf das nebenan gelegene Fahrerlager und schreitet seitlich über den Köpfen der Fans auf und ab. Bono singt "Give Peace a Chance" und leuchtet mit dem Scheinwerfer in die Zuschauermenge - ein Roadie verfolgt ihn die ganze Zeit, überfordert damit, was er tun soll.
Der obligatorische Festivalsonnenbrand gehört seit 30 Jahren dazu: Arme, Bäuche und kahle Köpfe färben sich krebsrot, so erkennt man auch noch Tage danach den RaR-Besucher. Schon in den Achtzigern spritzt man aus den Bühnengräben mit Schläuchen Wasser in die Menge, damit die Fans in der Hitze länger durchhalten - wenn es nicht gerade ein Jahr ist, in dem es an allen Tagen in Strömen regnet. Über das Wetter reden, geht auch am Nürburgring immer.
Festival und Fans gehen den Weg einige Jahre gemeinsam - im Jahr 1988 (die Headliner sind Chris Rea, Fleetwood Mac und Marius Müller-Westernhagen) sinken die Zuschauerzahlen aber auf 30 000. Es folgt eine zweijährige Pause - danach gibt es das Festival ab 1991 mit einem überarbeiteten Konzept: Wichtig ist nun auch, dem Publikum Newcomer vorzustellen. So trat etwa Alanis Morissette hier erstmals vor großem deutschem Publikum auf.
1993 findet erstmals das Parallelfestival "Rock in Vienna" statt. 1994 findet ein RaR-Ableger in München-Riem statt, 1995 wird daraus "Rock im Park". Seit 1997 findet dieses Festival zeitgleich zu "Rock am Ring" in Nürnberg statt. Wen die Massen dort lieben, den tragen sie auf Händen, wie hier Beatsteaks-Sänger Arnim Teutoburg-Weiß.
Auch daran muss im Rückblick noch einmal erinnert werden: Lenny Kravitz in seiner leicht bizarren Afro-Jeans-Lederfransen-Phase bei "Rock am Ring" 2002 ...
... und Marilyn Manson in seiner ganz normalen Phase 2005.
Zum ersten Mal in der Geschichte des "Rock am Ring" ist das Festival 2007 bereits im Voraus ausverkauft. Grund dafür sind prominente Bands wie Korn, Slayer, Megadeth und Die Ärzte.
Und 2008 schließt sich der Kreis zum ersten RaR: Tote-Hosen-Sänger Campino klettert auf das Dach der Hauptbühne. Es regnet und ist eiskalt an diesem Abend, die Planenkonstruktion ist schmierig und glatt - Campino hält sich am Rand des Dachs gerade noch an der letzten Eisenstange vor dem Abgrund fest. "Holt diesen Vollidioten vom Dach!", ruft Lieberberg angeblich, als er die Szene in seinem Büro live auf dem Monitor sieht. "Man hatte mich wohl nicht erkannt und hielt mich für einen besoffenen Fan", erzählt Campino später.
Das Festival öffnet sich der Metal-Szene: 1999 spielen Metallica das erste Mal am Nürburgring, inzwischen gehören Korn, System Of a Down, Slayer, Rage Against the Machine oder Motörhead zu den Standard-Headlinern. Das Nummer-eins-Metal-Festival bleibt allerdings Wacken.
Rund um die Nürburg lagern ab den 2000er Jahren stets 100 000 Fans, mit und ohne Tickets. Wer Klischees sucht beim Festival, wird regelmäßig fündig - und gleichzeitig auch wieder in seinen Schubladenbildern enttäuscht.
Das Monument der Musiktage: die Centerstage. An der Schlucht vor der 50 mal 40 Meter großen und 20 Meter hohen Bühne treffen Fans und Musiker unter bombastischstmöglichen Umständen aufeinander (hier: Fans und Muse, 2010).
Und wer will, springt nach guter alter Manier einfach über den Graben und mittenrein in die Masse, wie Prodigy-Sänger Keith Flint (2009).
Was auch schon immer und sicher für immer dazugehört: der Zeltaufbau, bevor es wirklich losgeht. 6.56 Uhr, vor Sonnenaufgang am ersten RaR-Tag, der Tau liegt noch auf der Campingwiese - und die ist noch als Wiese erkennbar.
Die RaR-Zeltstadt, das bedeutet: Luftmatratzensuche, Pfütze vor dem Reißverschluss, mindestens fünfzehn verschiedene Musiken, die einen nicht einschlafen lassen, Sex im Nachbarzelt, Sex im eigenen Zelt, Würgegeräusche im Dunkeln und Gemeinschaftsgefühl.
Was sich geändert hat, vor allem in den vergangenen sieben, acht Jahren: Vor der Bühne glimmen nach Anbruch der Dunkelheit nicht mehr Feuerzeuge und angezündete Haare, sondern Tausende Smartphones und Tablets. Und damit existieren meist auch Tausende mittelmies bis gut aufgelöste Privatversionen der Auftritte.
1.40 Uhr, nach dem letzten Konzert: So sieht der Abschied von "Rock am Ring" in jedem Jahr aus. Am Ende des Festivals im vergangenen Jahr stand Veranstalter Marek Lieberberg vor fast 90 000 jubelnden und singenden Fans auf der Bühne und versprach, wiederzukommen - an anderer Stelle. "Rock am Ring" 2015 findet nun erstmals am ehemaligen Bundeswehr-Flugplatz in Mendig statt, 30 Kilometer entfernt vom Nürburgring. Ausverkauft ist es trotzdem bereits seit Februar. Lesen Sie auch: Konkurrenzkampf um Rockfestivals - Warum es Metallica im Sonderangebot gibt.