271. Geburtstag:Ein gelehrtes Weib

GOETHE-NATIONALMUSEUM VOR ERÖFFNUNG

Geboren am 28. August 1749: Johann Wolfgang Goethe.

(Foto: DPA)

Goethes verkannter weiblicher Bildungsroman "Die Bekenntnisse einer schönen Seele".

Von Gustav Seibt

Der Bildungsroman, dieses Kronjuwel deutscher Literatur, pflegt einen männlichen Helden zu haben. Verträumt und unbekannt mit sich und der Welt beginnt er seine Bahn, probiert eher planlos herum im Spannungsfeld von Kunst, Liebe und praktischer Tüchtigkeit. Der Weg bleibt hier das Ziel, und auch wenn am Ende schmerzliche Resignation steht: Held und Leser haben nach ein paar hundert Seiten viel gelernt.

Auch die Leserin? Daran kann man zweifeln. Berufswahl und Abschied vom Genieverdacht gegen sich selbst waren doch eher männliche Sorgen. Selbst eine Familiengründung fand meist nicht statt, so verzehrend die Liebesgeschichten am Wegrand waren. Das Erbe des Ritterromans - der abenteuerliche Ritt in den Wald der Welt - schimmert zu deutlich durch, um den Bildungsroman weiblich denken zu können.

Da mag es wenig erstaunen, dass Leser und Kritiker beharrlich den einen großen weiblichen Bildungsroman übersehen, den die deutsche Literatur eben doch aufweist. Groß ist er als Konzeption, nicht im Umfang. Er findet sich im sechsten Buch von "Wilhelm Meisters Lehrjahren", die dem Genre die prägende Form gaben. Dieser Teil ist ein Buch im Buch, das dort mit Ergriffenheit gelesen wird; es stammt aus der Generation vor der Zeit der Haupthandlung und beschreibt unter dem Titel "Bekenntnisse einer schönen Seele" eine pietistische Erweckungs- und Frömmigkeitsgeschichte.

So liest man den Text jedenfalls meistens und verweist auf Quellen aus Goethes Jugend, als er durch eine Verwandte - Susanna Katharina von Klettenberg - mit der Herrnhuter Gemeinde und ihrer Spiritualität in Berührung kam. Die konfessionell ausgerichtete Quellenforschung hat die schockartige Neuigkeit der "Bekenntnisse" eher verdunkelt. In der Umgebung des bunten Theaterromans wirkten sie auf viele Leser vornehm-fade, von jenem "noble ennui", durch den man halt durchmusste, wenn man das turbulente Ende mit seinem Zauberflöte-Flair erreichen wollte. Allerdings hat man das sechste Buch der "Lehrjahre" auch oft ausgegliedert und separat als Frömmigkeitstext angeboten.

Die Erzählerin wird, was man damals gern lächerlich gemacht hat: ein "gelehrtes Weib"

Haben wenigstens die Leserinnen bemerkt, was für eine stille Revolution der Text vor Augen führt? Er ist ja ein Bildungsroman im Bildungsroman. Anders als der Haupttext ist er als Ich-Erzählung angelegt. Eine mit den Hauptfiguren weitläufig verwandte gräfliche Tante erzählt darin von ihrem eigenwilligen Streben zu Gott, und der männliche Autor Goethe spricht mit ihrer Stimme. Wenn es eine wache feministische Literaturwissenschaft gäbe, müsste es bergeweise Literatur dazu geben, doch vermutlich hat der religiöse Vordergrund den Genderblick hier abgelenkt. Wenig liest man vom zweiten, womöglich viel wichtigeren Thema der "Bekenntnisse": Sie sind eine Studie in weiblicher Autonomie, in entschlossener Abwehr vorgegebener Rollenmuster. Sie verbinden dieses Motiv mit einem sarkastischen Blick auf die Gesellschaft samt ihren männlichen Karrierezwängen und weiblicher Unterwerfung unter solche Zwänge.

Die Frau, die hier ihr inneres und eben auch äußeres Leben erzählt, wird durch frühe Krankheit von ihren Altersgenossinnen getrennt. Diese sich in Blutstürzen immer wieder erneuernde Kränklichkeit lässt sie nicht nur fromm werden, sie wirft sie auch zurück auf intellektuelle Beschäftigungen.

Sie wird das, was damals gern lächerlich gemacht wurde, nämlich ein "gelehrtes Weib", das sich für Theologie ebenso interessiert wie für Naturwissenschaften, das seine Gefühle in französischen Dichtungen ausdrücken kann und sich am Ende den schönen Künsten öffnet. Eine Thomas-Mann-artige, fast Tonio-Kröger-hafte Distanz liegt bald zwischen der Schönen Seele und der Gesellschaft der Normalen und Gesunden.

Das Medium dieses Abstandfindens und -nehmens ist eine Frömmigkeit, die Gott als unbekannten Freund begreift, als immer ansprechbaren Partner in allen Zweifeln und Ängsten. Die theologischen Spekulationen der Schönen Seele sind kühn: "Wenn ich Gott aufrichtig suchte, so ließ er sich finden, und hielt mir von vergangenen Dingen nichts vor. Ich sah hintennach wohl ein, wo ich unwürdig gewesen war, und wusste auch, wo ich es noch wahr; aber die Erkenntnis meiner Gebrechen war ohne alle Angst." Eine Hölle kann sie sich gar nicht denken. Ihre Fähigkeit zur Sünde entdeckt sie später, in der schockhaften Erkenntnis, dass sie zu den schlimmsten Verbrechen fähig sein könnte, wie jeder in der diesseitigen Welt.

Diese Desillusionierung erreicht sie beim Blick auf das gesellschaftliche Treiben um sie herum und eben nicht in pietistischer Selbsterforschung. Die Möglichkeit zum Verbrechen lauert in der sozialen Wirklichkeit, nicht in den Tiefen der Seele. Hat sie vielleicht schon Rousseau gelesen? Der fromm-desillusionierte Blick auf die sozialen Zwänge der feinen Gesellschaft lässt die Schöne Seele dann auch auf eine vielversprechende Ehe mit einem adeligen Karrierediplomaten, den sie "Narciß" nennt, verzichten.

Narciß ist aus bestem Hause, bei Hofe wohlgelitten, sehr gut aussehend und hat eine hohe Stellung in Aussicht. Auf sie will er warten, bevor er die Schöne Seele heiratet. Doch in den Wartejahren wird der Blick der gelehrten und frommen Frau auf ihre künftige Rolle als Gesellschaftsdame immer illusionsloser. Bei Tanz, Spiel und Wein wird ihr zunehmend unwohl, hohle Konversation ödet sie an. "Reine Luft ist mehr als Wein, das fühlte ich nur zu lebhaft". Sie würde gern das Gute dem Reizenden vorziehen, allein sie fürchtet, die Gunst von Narciß zu verlieren. Doch irgendwann werden ihr Sozialzwang und Verstellung zu viel, sie entdeckt, dass das Band, das sie an den Verlobten bindet, nur schwach sei, dass es sich zerreißen lasse, "daß es nur eine Glasglocke sei, die mich in den luftleeren Raum sperrte; nur noch so viel Kraft sie entzwei zu schlagen, und du bist gerettet!"

Für die endgültige Eheschließung stellt sie, die Frau, nun Bedingungen, und so etwas war in dieser Radikalität kaum je vorher erzählt worden, auch fünf Jahre nach der Französischen Revolution nicht, als der "Wilhelm Meister" erschien. Noch hatten die Romantiker und ihre Frauen, die Goethes Roman vergötterten, ihre Lebensexperimente nicht publiziert. "Ich erklärte mit männlichem Trotz", sagt die Schöne Seele zu ihrem Narciß, "dass ich mich bisher genug aufgeopfert habe, dass ich bereit sei, noch ferner und bis ans Ende meines Lebens alle Widerwärtigkeiten mit ihm zu teilen; dass ich aber für meine Handlungen völlige Freiheit verlangte, dass mein Tun und Lassen von meiner Überzeugung abhängen müsse."

Es sind großartige Seiten, die hier folgen, denn diese weibliche Entschlossenheit kann Narciß, dem die strenge Frömmigkeit seiner Verlobten vor allem peinlich ist, erst nicht verstehen, dann nicht akzeptieren. Er verlangt, dass sie "als Gattin eines Mannes, der ein Haus machen müsste", ihre Gesinnungen ändern müsse. "Ich dankte höflich", heißt es darauf, "und eilte mit Herz und Sinn von dieser Geschichte weg." Das Gefühl ihres Rechts verleiht der nicht nur schönen, sondern auch starken Seele eine "unbeschreibliche Gemütsruhe". "Da ich mich einmal meiner Frömmigkeit nicht schämte, so hatte ich Herz, meine Liebe zu Künsten und Wissenschaften nicht zu verbergen." Sie liest, zeichnet und malt, und sie bildet jenseits der großen Welt eine kleine um sich, "die weit reicher und unterhaltender war." Ihre dauerhafte Stellung in und jenseits der Welt findet sie als Stiftsdame in einem Konvent.

Viel zielstrebiger und klarer als Wilhelm Meisters unsicheres Schwanken zwischen Berufen, Ständen, Künsten und Frauen erscheint dieser Bildungsgang. Der Erzähler Goethe wagte es, hier als Frau zu sprechen und mit weiblichem Blick auf sein eigenes Geschlecht zu schauen. Kühn ist das bis heute - oder heute vielleicht besonders kühn, da alle Gruppen der Gesellschaft eifersüchtig auf ihrer eigenen Stimme beharren. Goethe dagegen ließ immer wieder Frauen sprechen, Iphigienie, Eugenie, Makarie, Ottilie. Da, wo der Mann allein redet, im "Werther", endet es böse. Die berühmte Milde seines Klassizismus könnte man auch als weiblichen Zug anerkennen.

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