"Der Böll war als Typ wirklich Klasse. Da stimmten Gesinnung und Kasse. Er wär' überhaupt erste Sahne, wären da nicht die Romane." Vor 25 Jahren starb Heinrich Böll. Sein Leben in Bildern. "Heiligkeit und Genie entziehen sich der Definition", soll Heinrich Böll gesagt haben. Wir wollen es dennoch versuchen. Vor 25 Jahren, am 16. Juli 1985 starb der Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger. Damals schrieb Siegfried Lenz im Spiegel: "Heinrich Böll, der Schriftsteller, der in seinem Werk lediglich seine Zeit darstellen wollte und damit für alle Zeiten schrieb, wird nicht in Vergessenheit geraten." Ein Vierteljahrhundert später könnte diese Aussage angezweifelt werden. Kaum jemand redet noch von Böll, im Deutschunterricht taucht er nur selten auf, seine Werke werden als gutgemeint aber veraltet belächelt. Kann das sein? Ist die Böll'sche Halbwertzeit wirklich abgelaufen? Wer war dieser Mann, was hat er geschaffen und wie viel davon ist für den heutigen Leser noch von Bedeutung? Das Leben und Werk Heinrich Bölls in Bildern. Texte und Bildauswahl: Luise Checchin/sueddeutsche. de/kar Lew Kopelew, Günter Grass und die Söhne von Heinrich Böll tragen den Sarg des Schrifstellers am 19. Juli 1985.
"Geboren bin ich in Köln, wo der Rhein, seiner mittelrheinischen Lieblichkeit überdrüssig, breit wird, in die totale Ebene hinein auf die Nebel der Nordsee zufließt; wo weltliche Macht nie so recht ernst genommen worden ist, geistliche Macht weniger ernst, als man gemeinhin in deutschen Landen glaubt." So beschrieb Heinrich Böll 1959 in Über mich selbst die eigenen Anfänge. Hineingeboren wurde er am 21. Dezember 1917 in eine von Auf- und Umbrüchen geprägte Zeit. Die Erbarmungslosigkeiten des 20. Jahrhunderts, er erfuhr sie am eigenen Leib. Als Sohn eines Tischlers in einem kleinbürgerlich, katholisch gefärbten Milieu aufwachsend, besucht er zunächst die Volksschule, wechselt dann an das humanistische Gymnasium und entscheidet sich nach dem Abitur 1937 für eine Lehre zum Buchhändler. Diese bricht er nach kurzer Zeit ab und beginnt stattdessen ein Studium der Germanistik. In die gleiche Zeit fallen seine ersten literarischen Arbeiten. Aber die historischen Ereignisse machen ihm einen Strich durch die Rechnung:
Im Herbst 1939 wird Heinrich Böll zur Wehrmacht einberufen. Es folgen Einsätze in Frankreich, Polen, in der Sowjetunion, in Rumänien und Ungarn. Seiner Frau - Annemarie Cech, eine Studienfreundin seiner Schwester, die er 1942 auf Fronturlaub heiratete - schreibt er fast täglich Briefe von der Front: "Das Leben ist grausam, und der Krieg, jeder Krieg ist ein Verbrechen; für immer bin ich absoluter Anti-Militarist geworden in diesen letzten Monaten elender Quälerei." Böll versucht alles, um dem Fronteinsatz zu entgehen. Er schreibt Freistellungsgesuche, zieht sich bewusst Krankheiten zu und fälscht Krankenscheine. Trotzdem bleibt er Soldat, gerät im April 1945 in amerikanische Kriegsgefangenschaft, aus der am 15. September 1945 entlassen wird. Endlich frei, lassen ihn die Erlebnisse dennoch nicht los und so wird der Krieg zum bestimmenden Thema seines frühen schriftstellerischen Schaffens.
"Schreiben wollte ich immer, versuchte es schon früh, fand aber die Worte erst später": Ab 1947 veröffentlicht er Kurzgeschichten und Hörspiele, 1949 erscheint die vom Kriegserleben geprägte Erzählung Der Zug war pünktlich, 1951 der Antikriegsroman Wo warst du Adam. Im selben Jahr kann Böll seinen ersten Erfolg verbuchen: Für seine satirische Erzählung Die schwarzen Schafe über die Tragik eines kleinen Mannes und heimlichen Künstlers erhält er den Literaturpreis der Gruppe 47. Beschäftigten sich die ersten Texte noch mit der Sinnlosigkeit des Krieges, beschreibt Böll in den darauffolgenden Werken - Und sagte kein einziges Wort (1953) und Haus ohne Hüter (1954) - zunehmend den widersprüchlichen Alltag im zerstörten Nachkriegsdeutschland. Heinrich Böll, Ilse Aichinger und Günther Eich (v.li.) während einer Tagung der "Gruppe 47" in Niendorf 1952.
Allerdings muten nicht alle diese Geschichten so niederschmetternd an, wie zu erwarten wäre: In der Satire Dr. Murkes gesammeltes Schweigen (1958) etwa erzählt Böll in wunderbar komischer Weise von dem jungen Rundfunk-Journalisten Murke, der sich mit dem opportunistischen Literaten "Bur-Malottke" herumschlagen muss. Letzterer möchte, der augenblicklichen antiklerikalen Stimmung entsprechend, in seinen früheren Radiobeiträgen das Wort "Gott" durch den Ausdruck "Jenes höhere Wesen, das wir verehren" ersetzt wissen. Dr. Murke, der sich den Launen des intellektuellen Schwätzers beugen muss, tröstet sich schließlich damit, die aus den Bändern herausgeschnittene Stille als Entspannungsmaßnahme anzuhören. Die Geschichte fand einen solchen Anklang, dass sie 1963/64 mit Dieter Hildebrandt in der Hauptrolle verfilmt wurde.
Ende der fünfziger Jahre entwickelten sich Bölls Arbeiten hin zu einem ästhetisch-innovativeren, progressiveren Schreibstil. Mit seinem Roman Billard um halb zehn begeisterte er die Kritik als Beispiel für eine "neue deutsche Literatur". Anhand der Architektenfamilie Fähmel werden drei Generationen charakterisiert, die sich im jungen Nachkriegsdeutschland gegenüberstehen: Der älteste, Heinrich Fähmel, errichtete die Abtei St. Anton, sein Sohn Robert zerstörte sie im Krieg, der Enkel Joseph ist bemüht, die Kirche wieder aufzubauen. Böll geißelt hier die restaurativen Tendenzen der jungen Bundesrepublik und die unverarbeitete Nazi-Vergangenheit. Heinrich Böll (r.) und Günter Grass (l.) im Großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks in Frankfurt 1973.
Mit einer ähnlichen Problematik befasst sich auch der 1963 erschienene Roman Ansichten eines Clowns. Der Industriellensohn Hans Schnier verlässt das bürgerliche Elternhaus, um Clown zu werden und scheitert an den einengenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Auch in Gruppenbild mit Dame (1971) geht es um gesellschaftliche Außenseiter. Die Protagonistin Leni Gruyten haben die Wirren des Krieges und private Schicksalsschläge zu einer stummen, vereinsamten Person gemacht, die schließlich von ihren Verwandten aus der eigenen Wohnung verbannt werden soll. Anders als in Ansichten eines Clowns endet der Roman aber nicht in der Resignation: Leni wird wieder in die Gesellschaft integriert. Es ist nicht zuletzt dieses Werk, das im darauffolgenden Jahr zu einer Entscheidung führt, die Bölls Bekanntheitsgrad rasant steigern sollte ... Heinrich Böll und Theodor W. Adorno in Frankfurt, 1968.
Die Schwedische Akademie entschließt sich 1972 dazu, Heinrich Böll den Literatur-Nobelpreis zuzusprechen. Damit wird zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg ein deutscher Schriftsteller mit dieser Auszeichnung geehrt. Die Jury begründet die Entscheidung folgendermaßen: Böll stehe für "eine Dichtung, die durch ihren zeitgeschichtlichen Weitblick in Verbindung mit ihrer von sensiblem Einfühlungsvermögen geprägten Darstellungskunst erneuernd im Bereich der deutschen Literatur gewirkt hat". Ob sich Böll tatsächlich über diese plötzliche internationale Aufmerksamkeit freuen konnte, ist zweifelhaft. Bereits 1971 schreibt er in einem offenen Brief an Hilde Domin: "Ich will kein Image haben und keins sein. Deutschland braucht keine Präzeptoren . . . es braucht kritische, aufmerksame Bürger, die nicht immer und unbedingt Autoren sein müssen. Was Autoren sind: auch Bürger, möglicherweise artikulierte; sonst nichts." Nobelpreisverleihung an Heinrich Böll am 10. Dezember 1972.
Das Jahr 1972 sollte für Böll noch in anderer Hinsicht ereignisreich sein. Inmitten des RAF-Konflikts veröffentlicht der Spiegel am 10. Januar einen Artikel des Schriftstellers, der unter dem Titel Will Ulrike Gnade oder freies Geleit? die Berichterstattung der Bild im Zusammenhang mit der Terrorismusdebatte kritisiert. Die Publikation entfacht eine beispiellose Polemik, während der sich Böll mit heftigen Angriffen sowohl von Seiten der Springer-Presse als auch von der restlichen Öffentlichkeit konfrontiert sieht. So nennt ihn Gerhard Löwenthal, Moderator des ZDF-Magazins, beispielsweise "einen Sympathisanten dieses Linksfaschismus", der "nicht ein Deut besser [ist] als die geistigen Schrittmacher der Nazis". In der Süddeutschen Zeitung nimmt Böll zu den Anschuldigungen Stellung: "Die Wirkung meines Artikels entspricht nicht andeutungsweise dem, was mir vorschwebte: eine Art Entspannung herbeizuführen und die Gruppe, wenn auch versteckt, zur Aufgabe aufzufordern. Ich gebe zu, dass ich das Ausmaß an Demagogie, die ich heraufbeschwören würde, nicht ermessen habe." Damit war der Höhepunkt der Aufregung allerdings noch nicht erreicht: Am 1. Juni 1972 - am gleichen Tag, an dem in einer Großfahndung die RAF-Mitglieder Baader, Raspe und Meins verhaftet wurden - durchsuchen Polizisten Bölls Haus in der Eifel nach Terroristen. Fahndungsbilder der Polizei von Ulrike Meinhof.
Von diesen Maßnahmen ist Böll derart geschockt, dass er sich nicht nur schriftlich beim Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher beschwert, sondern 1974 einen Roman veröffentlicht, der sich direkt mit der Ausbildung von Terrorismus und den Grenzen der Pressefreiheit beschäftigt: Die verlorene Ehre der Katharina Blum. Oder: wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann zeichnet das Porträt einer jungen Frau, die zu Unrecht terroristischer Machenschaften beschuldigt und so lange von der Boulevard-Presse gehetzt wird, bis sie schließlich doch zur Gewalttäterin wird. Böll macht unverständlich klar, wer hier gemeint ist. In der Einleitung heißt es: "Personen und Handlung dieser Erzählung sind frei erfunden. Sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit der Bild-Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich." Wolf Biermann mit Heinrich Böll 1976.
Die Auseinandersetzung mit der RAF ist nur ein Beispiel für das gesellschaftspolitische Engagement des Autors. Schon in den fünfziger Jahren wendet sich der überzeugte Christ Böll gegen das "Machtkartell" zwischen katholischer Kirche und CDU. Gleichzeitig engagiert er sich gegen eine Wiederaufrüstung der Bundesrepublik. Obgleich es nicht seine Generation war, hegte Böll große Sympathien für die 68er-Bewegung. Den Tod Benno Ohnesorgs 1967 bezeichnet er als "Mord durch die Staatsgewalt" und erklärt, dass jeder Künstler von Natur aus zur außerparlamentarischen Opposition gehöre. Anfang der achtziger Jahre wird Böll in der Anti-Atomkraft-Bewegung aktiv, spricht auf den großen Bonner Friedensdemonstrationen und beteiligt sich sogar 1983 an einer Blockade des Raketenstützpunktes Mutlangen. Heinrich Böll bei der Blockade des US-Militärdepots Mutlangen 1983.
Obwohl Böll stets auf der eigenen weltanschaulichen Unabhängigkeit beharrte, kam es vor, dass er sich für politische Protagonisten starkmachte: 1972 unterstützt er den Wahlkampf des Bundeskanzlerkandidaten Willy Brandt, in den achtziger Jahren spricht er sich ausdrücklich für die neugegründeten Grünen aus. Böll beließ es aber nicht bei bloßen Lippenbekenntnissen. Er hatte wesentlichen Anteil an der Ausreise der sowjetischen Dissidenten Alexander Solschenizyn und Lew Kopelew und nahm die Schriftstellerkollegen nach ihrer Ankunft in Deutschland in seinem Haus auf. Der Schriftsteller Alexander Solschenizyn und Heinrich Böll im Jahr 1974.
Möglicherweise liegt es auch grade an seinem ausgeprägten sozialen und politischen Einsatz, dass Böll so aus der Mode kam. Der ewige Mahner scheint den Menschen irgendwann lästig geworden zu sein. "Der gute Mensch von Köln", "moralische Instanz", "Gewissen der Nation" - diese Titulierung drücken mindestens genauso viel Spott aus, wie Anerkennung. Die Zeiten änderten sich und mit ihr auch die Literatur. Böll wurde immer mehr als naiv angesehen, als Gutmensch und hoffnungsloser Utopist, der sich die Welt so schreibt, wie sie ihm gefällt, und dabei übersieht, dass die Verhältnisse komplexer und unübersichtlicher geworden sind. Im Jahr 1994 reimte Robert Gernhardt: "Der Böll war als Typ wirklich klasse. / Da stimmten Gesinnung und Kasse. / Er wär' überhaupt erste Sahne, / wären da nicht die Romane." Der Schriftsteller Robert Gernhardt.
Das Fehlen Bölls im öffentlichen Bewusstsein ist auch deshalb so erstaunlich, weil die Themen, die ihm am Herzen lagen, aktueller denn je erscheinen: soziale Schieflagen, Terrorismus, Umweltschutz - zu alledem hätte Böll etwas zu sagen. Nimmt man zum Beispiel die Rede des Autors auf dem Dortmunder SPD-Parteitag im Oktober 1972, so könnte man daraus ohne Probleme einen Kommentar zur aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise formen: "Es gibt nicht nur eine Gewalt auf der Straße, Gewalt in Bomben, Pistolen, Knüppeln und Steinen, es gibt auch Gewalt und Gewalten, die auf der Bank liegen und an der Börse hoch gehandelt werden." Wie gehen wir mit unserer Vergangenheit um? Welche Zukunft wünschen wir uns? Was können wir heute tun, um diese Wünsche umzusetzen? Diese Fragen beschäftigten Heinrich Böll. Vielleicht könnte die Welt ein paar mehr Böll-Leser gebrauchen.