Süddeutsche Zeitung

2015 in Lyrics:Das sind die wichtigsten Songzeilen des Jahres

Von Kendrick Lamar über Tocotronic bis Adele und Sarah Connor: Diese Künstler prägten 2015 mit ihren Texten.

Kendrick Lamar: "Alright"

Nigga, we hate po-po / Wanna kill us dead in the street fo sho

Zu Kendrick Lamars im März erschienenem Meisterwerk "To Pimp a Butterfly" lassen sich viele Erfolgsgeschichten erzählen. Eine ist die, dass auf dem Albumcover die Schwarze Revolution dargestellt wird (eine schwarze Gang posiert nach der Eroberung des Weißen Hauses in dessen Vorgarten) und dann Mitte Dezember die Nachricht kam, dass Lamar damit im Weißen Haus angekommen ist: "How Much a Dollar Cost", an Position zehn des Albums, ist Barack Obamas Lieblingssong 2015. Eine andere Erfolgsgeschichte: Lamar ist mit dem Album bei den nächsten Grammy-Awards in elf Kategorien nominiert.

Der größte Erfolg des Albums aber ist wohl, dass Lamar es darauf schafft, das Lebensgefühl schwarzer Amerikaner heute zu fassen und die politischen Probleme (Kapitalismus, Rassismus, Drogen, Gewalt) in all ihrer Komplexität zu reflektieren. Vielleicht die prägnanteste Zeile: die über die Polizei ("po-po"), die öffentlich Jagd auf Schwarze macht. Im Jahr, in dem die "Black Lives Matter"-Bewegung bei vielen Demonstrationen mit starker Polizeipräsenz eingekesselt wurde, während zu den bekannt gewordenen Opfern der rassistischen Polizeigewalt (Trayvon Martin, Tamir Rice) immer neue hinzukamen (Sandra Bland, Walter Scott, Freddie Gray), hallt diese Zeile besonders übel nach. Kein Wunder, dass "Alright" als neue "Black National Anthem" bezeichnet wurde.

Jan Kedves

Lana Del Rey: "High By The Beach"

All I wanna do is get high by the beach/ Get high by the beach, get high by the beach, get high

Wer jetzt über den viel zu warmen Winter klagt, der denkt, wenn er mit dem Klagen fertig ist, immer auch an den viel zu warmen Sommer des Jahres 2015. An die Hitze, die auch spätabends noch in den Städten stand. Ans Baden in Flüssen und Seen, an diese große tropische Langsamkeit, die das ganze Land erfasst hatte zwischen Juni und August. Man kam da ja schon verschwitzt auf der Arbeit an, egal wie früh es war - und bevor die künstlich kühl klimatisierte Büroluft einen umfing, wünschte man sich genau das, was Lana Del Rey dann Mitte August endlich für alle in Worte fasste: Einfach an den Strand jetzt, nichts tun den ganzen Tag, denn wann wird es denn das nächste Mal wieder so einen Sommersommer geben? In diesem Leben noch?

Vielleicht ja tatsächlich. Denn 2015 war auch das Jahr, in dem man in Mitteleuropa zum ersten Mal dachte: Ja, dieser Klimawandel kommt, er ist eigentlich schon da und wird auch bleiben. Wenn von nun an alle jeden Sommer in der Hitze liegen und nach und nach die Siesta ein deutsches Grundbedürfnis wird, dann muss das mit diesem Lied im Hintergrund passieren. "High By The Beach" klingt pur, unverfälscht und klar, mit diesem Meeresrauschen im Hintergrund und darüber, in hypnotischen Spiralen kreisend, Lana Del Reys verschlafener Sirenen-Stimme. High? Ist man da sofort. Und sieht sich selbst - wie Del Rey im Musikvideo - im hellblauen Satin-Morgenmantel durch lichtdurchflutete Zimmer laufen.

Kathleen Hildebrand

Adele: "Hello" und Drake: "Hotline Bling"

Hello from the other side / I must've called a thousand times & You used to call me on my cell phone

Das Handy-Telefonat war in diesem Jahr ein großes Thema im Pop. Beziehungsweise: das nicht zustandekommende Handy-Telefonat. Sowohl Adele als auch Drake sangen ihre großen Hits nach dem Piepton auf die Mailbox. In Adeles "Hello" war es ihr früherer Lover, der nicht mehr abhob (oder wahlweise Adeles eigenes früheres Ich, das der heutigen Adele nichts mehr zu sagen hat). In Drakes "Hotline Bling" war es die Ex, die Drakes Anrufe ignoriert - dabei sehnt er sich doch so nach ihr, vor allem nach den Sex-Messages, die sie ihm früher immer nachts aufs Handy funkte.

Mailbox-Hits wie diese passen nur zu gut in die Smartphone-Ära. Die Kommunikationskanäle im Smartphone haben sich multipliziert, umso frustrierender ist es, wenn dann auf keinem einzigen der Kanäle etwas zurückkkommt. Viele nehmen eingehende Anrufe schon aus Prinzip nicht mehr an, weil sie es als übergriffig empfinden, am Telefon spontan eloquent und schlagfertig sein zu müssen. Sie tippen lieber eine SMS, WhatsApp-Nachricht oder Facebook-Message - oder eben nicht. Dabei wird die Sehnsucht immer stärker, endlich mal wieder miteinander zu sprechen - zumindest bei denjenigen, die noch anrufen und versuchen durchzukommen. Nebeneffekt: Die ersehnte Stimme im Ohr wird immer intimer und libidinöser besetzt, und die Songs zum Thema geraten sentimental. "Hello" und "Hotline Bling" sind so gesehen Hits für ein total kommunikationsgestörtes Zeitalter.

Jan Kedves

The Weeknd: "Tell Your Friends"

My cousin said I made it big and it's unusual/ She tried to take a selfie at my grandma's funeral

Man kann Abel Makkonen Tesfaye, besser bekannt als The Weeknd, viel unterstellen, aber ganz sicher nicht Jungfräulichkeit. Schreibt der kanadische R'n'B-Sänger doch die Chroniken der verdrogtesten, libidinösesten und gleichsam verzweifelsten Nächte, die der Pop seit langem gehört hat. Songs wie die feuchten Albträume eines Spätpubertierenden. "Push it to the limit, push it through the pain, I push it for the pleasure like a virgin to the game" sang The Weeknd noch vor vier Jahren auf seinem Debüt-Mixtape. Heute ist er ein Star.

2015 war das Jahr, in dem The Weeknd aus der Finsternis ins Licht trat. Mit einem Album, das wie kaum ein anderes nach Pop auf der Höhe der Zeit klingt. Mit Songs, so schön und glatt, dass man an ihnen abzurutschen und in den tiefen Abgründen zwischen ihnen zu verschwinden droht. Kein Stück auf "Beauty Behind the Madness" umreißt den Kosmos von The Weeknd besser als "Tell Your Friends": der Fame, der Sex, die Drogen und das große Nichts, das hinter jedem Blowjob, hinter jeder Line Koks lauert.

Drogen waren dieses Jahr im Hip-Hop wieder ein Thema, ob Hustensaft (Future: "Dirty Sprite 2"), LSD (A$AP Rocky: "At.Long.Last.A$AP") oder eben Koks. The Weeknd macht dieses Sujet zum Teil der großen Erzählung von der neuen Verletzlichkeit im Pop. Denn die Geschichte von Abel Makkonen Tesfaye ist nicht nur die eines jungen Mannes aus Toronto, der vom Obdachlosen zum Weltstar aufsteigt - sondern auch ein Klagelied auf den Verlust der Anonymität. Aussprechen heißt angreifbar werden - gerade in einem angeblich "harten" Genre, in dem "softe" Künstler mit Spott übergossen werden.

Bei aller Druffi-Lyrik gilt: The Weeknd war immer mehr Frust als Lust - auch wenn er mittlerweile Songs für den Soundtrack von "Fifty Shades of Grey" schreibt. "Tell Your Friends" ist emotionale Reizüberflutung. Doch am Ende verlieren sich Stimme und Gitarre im dumpfen Mix. Die Clubtür schluckt den Partylärm. Und du hörst nur noch den Bass. Alleine, auf der dunklen Straße.

Julian Dörr

Justin Bieber: "What Do You Mean?"

What do you mean? Oh, oh / When you nod your head yes / But you wanna say no / What do you mean? Hey-ey

Vor allem in Kalifornien, aber auch in anderen US-amerikanischen Bundesstaaten wurde in diesem Jahr die "Yes Means Yes"-Bill diskutiert. Ein Gesetz, das auf dem High-School-Campus klare Standards für Einvernehmlichkeit beim Sex schaffen soll. Sex soll nur noch erlaubt sein, wenn beide Partner vorher klar und deutlich - und ohne Einfluss von vernebelnden Substanzen - "Ja" gesagt haben (statt einfach nur nicht "Nein"). Ziemlich realitätsfremd, könnte man denken. Aber Realität ist eben auch, dass die Zahl von Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen unter amerikanischen Studenten erschreckend hoch ist.

Justin Biebers Song "What Do You Mean?" ist so etwas wie der Song zur Problematik, er dreht sich komplett um unklare Kommunikation und den Wunsch nach Einvernehmen. Das Mädchen sagt ihm, er solle sich sich nicht von der Stelle rühren, aber er solle sich verpissen, dann will sie nach links gehen, aber eigentlich doch nach rechts. Man kann nicht anders, als den Song vor dem Hintergrund von "Yes Means Yes" zu hören. In einem Radio-Interview sagte Bieber: "Mädchen sind so unentschieden. Sie sagen das eine, aber meinen das andere." Das ist natürlich ein übles Klischee, aber Bieber bemüht sich mit der zigmal wiederholten Frage "Was meinst Du eigentlich?" um Klärung.

"What Do You Mean?" war Biebers erste Nummer-1-Single in den USA. Es ist eine Hymne für verunsicherte junge Männer aus seiner Generation, die Angst haben, etwas falsch zu machen. Bieber selbst jedenfalls imaginiert sich schon als "sex offender": Das Cover der Single zeigt einen Mugshot von ihm, kurz nach seiner Festnahme.

Jan Kedves

ANOHNI: "4 Degrees"

I wanna see this world, I wanna see it boil/ It's only 4 degress, it's only 4 degrees

Gibt es das Genre Erderwärmungspop schon? Wenn nicht, dann hat Antony Hegarty es in diesem Jahr erfunden. Pünktlich zur Klimakonferenz in Paris veröffentlichte der Transgender-Künstler die Single "4 Degrees". Ein Song über die Folgen des Klimawandels - mit einer im Pop bisher unbekannten Drastik. "4 Degrees" ist brutal, textlich wie musikalisch. Die Welt soll kochen, die Fische tot im Wasser schwimmen, die Nashörner brennen. Es sei ja schließlich nur vier Grad wärmer, wie Antony immer wieder singt. Was soll's also?

"4 Degrees" ist im Grunde ein klassischer Protestsong - in einem Jahr mit vielen großen Protestsongs. Ein dringlicher, ein zynischer Song, härter und direkter als alles, was der durch und durch politische Songwriter Antony Hegarty bisher veröffentlicht hat. Für "4 Degrees" hat er sich in ein neues Gewand gehüllt, nennt sich ANOHNI und kollaboriert mit den Produzenten Hudson Mohawke und Oneohtrix Point Never, zwei prägenden Figuren dieses Musikjahres.

Weg von der Kammermusik also, hin zur Elektronik. Pop liebt bekanntlich all seine Kinder gleich. Und Hudson Mohawke, dessen Song "Ryderz" sich in einer gerechten Welt jeder Mensch mit Herz in die Playlist des Jahres gepackt hätte, macht Pop nach dem Maximalprinzip - immer eine Spur deftiger, fetter, größer. ANOHNI und seiner Botschaft steht dieser Maximalismus, und wir können gespannt sein auf das kommende Frühjahr. Dann nämlich soll "Hopelessness", das Album zu "4 Degrees", erscheinen.

Julian Dörr

Tocotronic: "Solidarität"

Wenn ihr nicht mehr weiter wisst / und jede Zuneigung vermisst / Wenn ihr vor dem Abriss steht / Ihr habt meine Solidarität

Tocotronic, seit dem Ende von Blumfeld die wichtigste deutschsprachige Band mit linkem Gewissen, bringt ihre Solidarität mit den Geflüchteten zum Ausdruck, die in diesem Jahr in die Bundesrepublik kamen und kommen. Die Solidarität gilt ihrer Hoffnung auf ein sichereres Leben, ohne Bomben und Killerkommandos. Wohl deswegen ist "Solidarität" betont sanft gehalten: die Akustische ganz vorsichtig gezupft, Streichquartett im Hintergrund, Dirk von Lowtzows Bass kuschelweich. Botschaft: nur nicht noch mehr Stress!

"Solidarität" erschien im April auf Tocotronics "Rotem Album", kann also von den hässlichen Szenen, die sich im Sommer etwa in Heidenau vor dem Flüchtlingsheim abspielten, nicht inspiriert sein - auch wenn einige Zeilen deutlich danach klingen: "Die ihr jede Hilfe braucht / Unter Spießbürgern Spießruten lauft / Von der Herde angestiert / Mit irren Fratzen konfrontiert".

Dieses Willkommenslied in deutscher Sprache wird wohl kaum bei jenen ankommen, an die es adressiert ist. Bislang ist "Solidarität" nicht ins Syrische, Persische oder Tigrinische übersetzt. Aber dass diejenigen, die Deutsch sprechen und so denken wie Dirk, eine Hymne bekommen für diese verhärteten Zeiten und fürs Verteidigen ihrer eigenen Offenheit, das ist ja auch schön.

Jan Kedves

Courtney Barnett: "Depreston"

You said, "we should look out further", I guess it wouldn't hurt us/ We don't have to be around all these coffee shops

Es geht in diesem Song auch um einen Espressokocher, der den besten Latte macchiato der Welt macht. Und der seiner Besitzerin so 23 Dollar in der Woche spart. Courtney Barnett, die australische Singer-Songwriterin, ist die glückliche Espressokocherbesitzerin. So glücklich, dass sie die überteuerten Cafés von Melbourne zum Teufel schickt und sich ein Haus in der Vorstadt anschaut. Doch dort, in Preston, lauert die Depression.

"Depreston", wie dieser wunderbare Song um den Espressokocher, die Stadtflucht und den Vorstadtmief heißt, ist ein Song über das Gefühl, nirgendwo anzukommen. Drinnen geht nicht, draußen aber auch nicht. Die Großstadt ist teuer und die Vorstadt verspießt. "Depreston" klingt zunächst einmal nach gelangweilt vorgetragener Hipster-Klage und Erste-Welt-Problemen. Der Song selbst ist kaum mehr als ein Demo-Tape. Das Schlagzeug rumpelt, die Gitarre schmeichelt sich in Country und Ohr.

Doch Courtney Barnett ist nur beim ersten Hinhören diese schluffige Slackerin. Mit nur einer Zeile kann sie die Tonalität eines Songs umkrempeln. Im Haus, das die Ich-Erzählerin in "Depreston" besichtigt, hängen die Fotos des verstorbenen Vorbesitzers: "a photo of a young man in a van in Vietnam". Und wie sie dieses "nam" so ausdünnen lässt, wird einem klar: Hier geht es nicht um Immobilien, sondern um die Vergänglichkeit des Alters, den Hochmut der Jugend und die ganze Verlorenheit dazwischen. Dieses Leben, in das man einfach nicht reinpassen will. "Depreston" ist auch die schönste Umschreibung von Adornos berühmtem Zitat vom richtigen Leben im falschen. Wo kann man sich heute noch einrichten? Und was ist das, Heimat? Courtney Barnett singt keinen Song über Erste-Welt-Probleme, sondern das treffendste Generationenlied seit Oasis' "Live Forever".

Julian Dörr

Sarah Connor: "Wie schön du bist"

Weißt du denn gar nicht, wie schön du bist?

Jedes Land kann sich freuen, wenn es eine Diva hat. Das klingt exklusiv und gibt einem das Gefühl mithalten zu können mit Musikmächten wie den USA. Die deutsche Diva war Anfang der Zweitausenderjahre Sarah Connor. Sie hatte eine Stimme wie Mariah Carey und sang an einen nicht näher definierten "Boy" gerichtet Sätze wie: "Boom, boom, boom my heart's going, all I wanna do is stay in bed with you". Einfach so, ohne sich für die Banalität dieser Zeilen zu schämen.

Auch 2015 macht Sarah Connor das einfach, nur mittlerweile auf Deutsch. "Muttersprache" heißt ihr im Mai erschienenes Nummer-eins-Album, das auch am Ende des Jahres noch in den Top Ten steht. Darauf gibt es ziemlich viele, ziemlich schlechte Reime. Zum Beispiel diesen hier: "Der Applaus ist längst vorbei und dein Herz schwer wie Blei. Jeder redet auf dich ein, trotzdem bist du so allein. Und du siehst so traurig aus. Komm in mein' Arm, lass es raus." So geht es noch eine Weile weiter, bis das Lied in einer Frage gipfelt: "Weißt du denn gar nicht, wie schön du bist?"

Eigentlich hat Sarah Connor diese Zeile für ihren Sohn geschrieben. Aber 2015 dürfen sich alle angesprochen fühlen (mit einigen vernachlässigbaren Ausnahmen, die sich allmontaglich zusammenrotten). Die Deutschen haben das Klischee der hässlichen Deutschen abgelegt und zeigen nun ihr freundliches, weltoffenes Gesicht. Ganz offiziell, von der Kanzlerin verkündet. Weil man Sarah Connor viel vorwerfen kann, aber nicht, dass sie das Eintreten geschichtsträchtiger Ereignisse auf ihre Lieder zurückführt - wie das mitunter männliche Kollegen tun - sei an dieser Stelle gesagt: "Wie schön du bist" wäre auch ohne Flüchtlingskrise ein Hit. Sarah Connor kann einfach verdammt gut singen, Kinderreime hin oder her. Viva la diva!

Johanna Bruckner

Father John Misty: "Bored in the USA"

Oh, they gave me a useless education/ And a subprime loan on a craftsman home/ Keep my prescriptions filled/ And now I can't get off/ But I can kind of deal/ Oh, with being bored in the USA

2015 war ein gutes Jahr für Satiriker - besonders für solche, hinter deren Witz auch immer ein aufklärerischer Drang steckte, eine Erziehung zur Mündigkeit. John Oliver gewann durch seine Fernsehduelle mit FIFA-Funktionär Jack Warner viele neue Fans in Deutschland und Jan Böhmermann etablierte sich mit Varoufakis-Finger und dem zweischneidigen Haftbefehl-Polizei-Diss im medialen Mainstream. Doch auch der Pop hatte 2015 seinen großen Satiriker.

J. Tillman alias Father John Misty war der verrückteste Typ, den man sich in diesem Jahr auf einer Bühne sehen konnte. Seine Konzerte, eine größenwahnsinnige Rockstar-Farce, die jede Geste, jede Betonung ins Absurde übersteigerte. Mit Father John Misty bekam der verhuschte Indie-Folk seinen Anti-Helden, einen bitteren Zyniker, der vor schweren Geigen gegen Gott und die Welt ätzt. J. Tillman war einmal Schlagzeuger bei den Fleet Foxes, die zwar nicht den vierstimmigen Gesang, dafür aber den Vollbart als Hipster-Accessoire erfunden haben. Als Father befreit uns Tillman nun endgültig von diesem ironischen Leben.

"Bored in the USA" ist die Ironie in der Ironie, ein Song, verloren in Sarkasmus-Schleifen. Das Gejammer eines privilegierten weißen Mannes, weniger eine Parodie auf Bruce Springsteens "Born in the USA", denn auf Ronald Reagan, der den Song einst fälschlicherweise für Hurra-Patriotismus hielt. Father John Misty entlarvt zwischen Erektionsproblemen und Schuldenkrise den amerikanischen Traum, als das, was er wirklich ist: ein großer, trauriger Witz.

Julian Dörr

AnnenMayKantereit: "Oft gefragt"

Du hast dich oft gefragt, was mich zerreißt/ Ich wollte nicht, dass du es weißt

Machen wir es kurz. Diese Stimme! Die könnte sogar die eigene Steuererklärung singen oder eine Werbung für ein Genitalpilz-Medikament, und man würde ihr gerne zuhören. Henning May heißt der Mann, der klingt, als habe er sein ganzes bisheriges Leben damit zugebracht, zu saufen und zu rauchen. In Anbetracht seines Alters - May ist Anfang 20 - und der deutschen Gesetzeslage in Sachen Alkohol- und Nikotinkonsum ist seine Stimme aber wahrscheinlich einfach ein genetischer Glücksfall. Und der Sänger der Kölner Band AnnenMayKantereit weiß, bei wem er sich dafür zu bedanken hat: bei seinem Vater. Für den singt der Sohn also diese wunderbar einfachen, berührenden Zeilen: "Du hast dich oft gefragt, was mich zerreißt, ich wollte nicht, dass du es weißt."

Es geht in "Oft gefragt" aber auch um einen musikalischen Vater. "Du bist Zuhause, für immer und mich", singt Henning May ganz am Ende. Und paraphrasiert damit den großen Rio Reiser. Überhaupt bellt May gefühlige Zeilen so schön angeschlagen ins Mikrofon wie vor ihm nur der ehemalige Scherben-Frontmann. Als gerade erst Ex-Teenager einen Song für die eigenen Eltern zu schreiben - das muss man sich erst mal trauen. Was mag jemand, der sich schon mit Anfang 20 vom Coolness-Diktat des Pop emanzipiert, erst zustande bringen, wenn er wirklich mal ein Jahrzehnt durchgesoffen und -geraucht hat?

Johanna Bruckner

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