Süddeutsche Zeitung

200 Jahre Karl Marx:Mit Marx die Welt verstehen

Ob globale Finanzströme oder Automatisierung: Zum ersten Mal in seiner Geschichte scheint der Kapitalismus wirklich so zu funktionieren, wie Marx es beschrieben hat.

Kommentar von Franziska Augstein

Vor dreißig Jahren sah Marx ziemlich alt aus. Schlagwörter aus dem "Kapital", wie "Verelendungstheorie", "Proletariat", "Klasse", "Entfremdung" hatten in eine Sackgasse geführt: Deutsche Arbeiter besaßen einen Mercedes, viele wählten CDU und fühlten sich nicht entfremdet. Heute, da die Globalisierung wirkt, hat sich das geändert. Seitdem jeder Konzern seine Waren dort anfertigen lässt, wo sie am billigsten produziert werden, ist Ausbeutung wieder ein Thema. Vorboten des Aufstands der Armen sind die afrikanischen Flüchtlinge, denen die Wirtschaftspolitik des Westens und Chinas die Lebensgrundlage nimmt.

Marx ist wieder aktuell. Als der frisch gekürte französische Präsident Emmanuel Macron von einer Frauenzeitschrift gefragt wurde, welche Lektüre er empfehle, antwortete er: Lesen Sie "Das Kapital" von Marx. Das sei nützlich, "um die Welt zu verstehen". Es stimmt. Zum ersten Mal in seiner Geschichte scheint der Kapitalismus wirklich so zu funktionieren, wie Marx es beschrieben hat.

Dieser Karl Marx war ein Hallodri. So wie manche Männer heute fremden Frauen an den Busen grapschen, ging er mit der Philosophie um: alles meins! Zu einem verlässlichen Broterwerb konnte er es mit seinem Zugriff nicht bringen, wohl aber zu grandioser posthumer Berühmtheit. Denn er war treu - nicht seiner Frau Jenny, wohl aber der Philosophie. Diese Geliebte stellte er vom Kopf auf die Füße. Von Hegel hatte er gelernt. Während freilich Hegel sich Gedanken über den idealen Staat machte, wollte Marx des Menschen Glück.

Die Ökonomen vor Marx hatten entdeckt, dass jedes Individuum Teil eines Systems ist, dass die Wirtschaft auf dem Zusammenspiel vieler Einzelinteressen basiert. Marx wollte das so nicht hinnehmen, er fand Kinderarbeit unerträglich und 14-stündige Arbeitstage menschenverachtend. Also musste er den Riesenhebel, den Hegel ihm an die Hand gegeben hatte, anders ansetzen. These, Antithese, Synthese: Alles, was ist, gebiert aus sich heraus einen Widerspruch, und daraus wird etwas Neues geschaffen.

Im 19. Jahrhundert lebte die Bourgeoisie auf Kosten der Arbeiter (These). Diverse Aufstände belegten, dass die hungernden Arbeiter sich damit nicht abfinden konnten (Antithese). Wie wäre es also mit einer klassenlosen Gesellschaft (Synthese)? An der ökonomisch-philosophischen Untermauerung dieser Theorie hat Marx jahrzehntelang gearbeitet. Unterwegs kam er auf den Kommunismus, worunter er sich vorstellte: die Abschaffung des Privateigentums, die gesellschaftliche Steuerung der Produktion und damit die Möglichkeit für den Einzelnen, nicht mehr "entfremdeter" Arbeit nachzugehen. Die völlige Abschaffung des Privateigentums hat Marx später nicht mehr gefordert.

Im "Kapital" hatte er noch andere Räder zu drehen. Seinem materialistischen Denken liegt die Idee zugrunde, dass in jeder "Gesellschaft die Verteilung der Produkte, und mit ihr die soziale Gliederung in Klassen oder Stände, sich danach richtet, was und wie produziert und wie das Produzierte ausgetauscht wird". Das Sein bestimmt das Bewusstsein: Auf wirtschaftliche Gegebenheiten kommt es an.

In den Neunzigerjahren galt Marx nicht mehr so viel wie zuvor (dies auch bei denen, die ihn nicht plump-antikommunistisch für Stalins Massenmorden verantwortlich machten). Mit der Öffnung des Eisernen Vorhangs war vermeintlich das Ende der Geschichte und der Klassenkämpfe gekommen. In Wahrheit änderte sich ihr Frontverlauf. Und der "Mann der Arbeit" erkennt, wenn er aufwacht, nicht mehr seine Macht, sondern seine Ohnmacht. Das Kapital nämlich setzt, digitalgestützt und von allen Grenzen befreit, auf das weltweite gegeneinander Ausspielen von Standorten und auf den Handel mit sich selbst.

Heutzutage wird über eine Finanztransaktionsteuer debattiert, die ein wenig Ruhe in das computergesteuerte volatile Geschäft der Börsen bringen könnte. Marx hat das so beschrieben: "Mit der Entwicklung des zinstragenden Kapitals und des Kreditsystems scheint sich alles Kapital zu verdoppeln und stellenweis zu verdreifachen (...) Der größte Teil dieses ,Geldkapitals' ist rein fiktiv." Das klingt wie eine Beschreibung der Weltfinanzkrise von 2007/2008. Solche Vorgänge hat Marx vorausgesehen.

In seinen jungen Jahren, um die Zeit von 1848, als in Westeuropa das revolutionäre Fieber pochte, favorisierte er Gewalt. Später tat er das nicht mehr. Er wusste nicht, wie die bestehenden ungerechten Zustände aus sich heraus eine egalitäre Wirtschaftsordnung hervorbringen könnten. Das mag einer der Gründe gewesen sein, warum er "Das Kapital" nicht vollendet hat.

Der Wirtschaftstheoretiker Joseph Schumpeter war kein Linker, aber von Marx hatte er sich die Idee der "schöpferischen Zerstörung" abgeschaut. Heutzutage ist an Stelle dieses Begriffs das Wort "disruptiv" getreten: Alle Unternehmen, die etwas Altes in die Knie zwingen, um etwas Neues aufzubauen, gelten als "disruptiv". Kaum ein CEO weiß, dass er dieses Wort Marx zu danken hat.

Auch Marxens Idee vom "tendenziellen Fall der Profitrate" war nicht so weit hergeholt. Dem Fall von Renditen wird entgegengewirkt, auf Kosten der Arbeitnehmer: Entweder die Menschen werden durch Roboter ersetzt, oder die Löhne sinken. Interessanterweise haben viele Kapitalisten diesen Mechanismus begriffen. Nicht zufällig plädieren Milliardäre und Multimillionäre für das bedingungslose Grundeinkommen: Sie wollen den großen Aufstand der Arbeitslosen und Minderbemittelten verhindern.

Karl Marx war ein Visionär. Als junger Mann hatte er keine Ahnung von Ökonomie. Das Nötige hat er sich angeeignet. Weil er eigentlich von der Philosophie herkam, konnte er so komplex und überzeitlich argumentieren, dass seine Theorien heute mehr als früher Geltung haben. Macron hat recht: Die Lektüre von Marx ist ein Schlüssel zur Welt von heute.

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Quelle:
SZ vom 05.05.2018/luch
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