Süddeutsche Zeitung

200. Geburtstag von Michail Bakunin:Hoffnung des Zerstörers

Michail Bakunin ließ keine Gelegenheit aus, Freiheit zu fordern - als Anarchist kämpfte er um die Führung der Arbeiterklasse. Vor 200 Jahren wurde der russische Revolutionär und Gegenspieler von Karl Marx geboren.

Von Willi Winkler

Nach der Generalprobe für Beethovens Neunte trat der Mann, der in mehreren Ländern als gefährlicher Aufwiegler gesucht wurde, vor das Dresdner Orchester und rief dem Kapellmeister laut zu, "dass, wenn alle Musik bei dem erwarteten großen Weltenbrande verloren gehen sollte, wir für die Erhaltung dieser Symphonie mit Gefahr unseres Lebens einzustehen uns verbinden wollten".

Zu dem ersehnten Weltenbrand kam es 1849 so wenig wie in den folgenden Jahrzehnten. Aber dass dieser Schöngeist jederzeit bereit war, sein Leben dafür zu riskieren, daran ließ er nie einen Zweifel. In der vorletzten Jahrhundertmitte gab es keinen umtriebigeren Revolutionär als Michail Alexandrowitsch Bakunin, der an diesem Freitag vor zweihundert Jahren in Prjamuchino als Sohn eines wohlhabenden Grundbesitzers zur Welt kam.

Der Vater hatte ihn zum Militär bestimmt, er brachte es auch brav zum Artillerieoffizier. Aber lieber las er Jean Paul und Walter Scott und übersetzte den Schwestern aus Bettina von Arnims Briefwechsel mit Goethe. Er glaubte an die Literatur, und die Kunst war ihm das einzig Vernünftige. Als frommer junger Mann und ebenso glühender Idealist wollte er da noch den Staatsdenker Hegel überhegeln: "Sich mit der Wirklichkeit auszusöhnen, ist unter jedem Gesichtspunkt die große Pflicht unserer Epoche."

Heimat in der Bohème

Die Versöhnung misslang, kaum dass er an seinem Sehnsuchtsziel Berlin angekommen war. Dort hoffte er, nicht anders als der konservative Revolutionär Kierkegaard, aus der reinen Quelle des Geistes zu trinken und wurde maßlos enttäuscht. Doch so wenig wie Kierkegaard war er gewillt, seinen Gott aufzugeben. Als später Rousseauist nannte er ihn aber fortan die Freiheit.

Von seiner Herkunft war er nicht bloß wohlhabend, sondern auch noch Aristokrat, seine neue Heimat aber sah er in der langhaarigsten Bohème. Noch vor dem abtrünnigen Hegel-Schüler Karl Marx und weit radikaler als dieser stellte Bakunin den deutschen Idealismus in den Dienst der Revolution: "Lasst uns also dem ewigen Geiste vertrauen, der nur deshalb zerstört und vernichtet, weil er der unergründliche und ewig schaffende Quell alles Lebens ist. - Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust!"

Diese Botschaft in seinem ersten bedeutenden Aufsatz, der 1842 unter dem Titel "Die Reaction in Deutschland" in den Deutschen Jahrbüchern erschien, hatte Folgen noch für die großen Zerstörer Joseph Schumpeter und Margaret Thatcher. Selbst Jeff Bezos kann seine aktuelle Amazon-Politik als schöpferische Zerstörung ausgeben. Als Akteure eines marktradikalen Kapitalismus sind sie jeder anarchistischen Neigung unverdächtig und haben doch von ihm das Schlimmste gelernt.

In Berlin begegnete Bakunin auch der zur Matrone gereiften Witwe Arnim, die es mit ihrem Pamphlet über die Armut in Preußen ("Dies Buch gehört dem König") zur Staatsfeindin gebracht hatte. Varnhagen von Ense beschreibt ihn in seinem Tagebuch als "kräftig und muthvoll wie nur je, stolz und freudig, voll süßer Hoffnung! Der riesige Körper leistet ihm jeden Dienst." Der Dienst war die Schwerstarbeit an der Revolution. In Böhmen, Polen, Schweden, Österreich, in Frankreich, Italien und selbstverständlich auch in Deutschland ließ er keine Gelegenheit aus, nach vorn an die Barrikade zu stürmen und die Freiheit zu fordern.

Abschiebung nach Russland

In Dresden machte er den militärischen Anführer des 1849er Aufstands, bei dem auch der Teilzeit-Revolutionär Richard Wagner mittat, der die Szene nach der Aufführung von Beethovens völkerverbindender Symphonie überliefert hat. Wagner blieb natürlich Kapellmeister, Bakunin wurde zusammen mit dem Komponisten August Röckel zum Tode verurteilt. Während sie die Hinrichtung erwarteten, versicherte ihnen Wagner in einem Brief, dass er "mit verjüngten, stark beschwingten kräften auch für mein theil und nach meinen fähigkeiten an dem werke arbeite, für das Ihr helden jetzt Euer leben laßt". Und wirklich, ist nicht die "Götterdämmerung" der Weltenbrand, den es zum deutschen Glück nur auf der Bühne gibt?

Die beiden Todgeweihten kamen davon, Bakunin wurde nach Russland abgeschoben, wo er sechs Jahre in der Festung verbrachte. Zar Nikolaus entließ den "gutherzigen Jungen" dann doch aus der Haft, verbannte ihn aber als "gefährlichen Menschen" nach Sibirien. Dort heiratete Bakunin, die Gelegenheit war günstig, eine Siebzehnjährige, die er als wahrer Anarchist bald brüderlich mit einem Kampfgefährten teilte, der auch die drei Kinder zeugte, und floh, den Amur entlang immer weiter nach Osten. Er erreichte Japan, Kalifornien, schiffte sich nach Europa ein und nahm 1861 in London den revolutionären Kampf wieder auf, auf den er zehn Jahre lang hatte verzichten müssen.

Ungebrochen arbeitete Bakunin an der "radikalen und unerbittlichen Zerstörung der gegenwärtigen sozialen Welt, in ökonomischer wie in religiöser, metaphysischer, politischer, juridischer und bürgerlicher Hinsicht". Durch Lithografien und Flugschriften war er steckbriefbekannt in ganz Europa, aber er achtete darauf, dass für sein wahres Abbild nur erstrangige Künstler wie Nadar sorgten: ein Aristokrat (in einer für Nachgeborene verblüffenden Ähnlichkeit mit dem Haudrauf Bud Spencer), den Genüssen, die das Leben zu bieten hatte, keineswegs abgeneigt, ein Freigeist, ein Revolutionär, wie ihn nur das zaristische und auch sonst kaiserliche Europa des 19. Jahrhunderts hervorbringen konnte.

Bakunin konkurrierte erbittert mit der Gruppe Marx-Engels um die Führung der Arbeiterklasse. Eine Zeitlang versuchte er zwar, Marx' Kapital ins Russische zu übersetzen, doch konnte er mit dem zunehmend herrschsüchtigen Marx, den er bei Gelegenheit auch antisemitisch beschimpfte, immer weniger anfangen. Nicht der Bourgeois oder der kapitalistische Ausbeuter ist der größte Feind des totalitären Kommunisten, sondern der Anarchist, der mehr als alles andere die Macht bekämpft. Marc Caussidière, 1848 der Anführer der republikanischen Garde in Paris, soll deshalb gesagt haben, dass Bakunin unerlässlich für den ersten Tag der Revolution sei, aber am zweiten erschossen werden müsse. Die gnadenlosen Etatisten Lenin und Trotzki hätten keinen Tag gezögert.

In "Staatlichkeit und Anarchie" hat Bakunin den Gegensatz glasklar formuliert. Für ihn unterschied sich der neue nicht vom alten Staat, denn auch der marxistisch-totalitäre sei nur "die Verwaltung einer Mehrheit durch eine Minderheit im Namen der angeblichen Dummheit ersterer und der angeblichen Weisheit letzterer. Deshalb sind sie auch gleich reaktionär und haben, die eine wie die andere, als unmittelbares und notwendiges Ergebnis die Sicherung politischer und ökonomischer Privilegien für die herrschende Minderheit und die politische und wirtschaftliche Versklavung der Volksmassen."

Lust der Zerstörung

Anders als sein zeitweiliger Lieblingsschüler Netschajew, dieses jesuitische Monster von einem Revolutionär, warf Bakunin nie eine Bombe. Seine Lust der Zerstörung erschöpfte sich weitgehend in der Vernichtung des Kapitals, des Geldes, das ihm Familie und Freunde immer wieder borgen mussten.

Als der Erste Weltkrieg die anciens régimes in ganz Europa hinwegfegte, war er längst tot, 1876 in Bern gestorben und vom Standesbeamten als friedlicher "Privatier" in den Akten beerdigt. In der ihm von Zar Nikolaus abgeforderten Beichte hatte sich Bakunin auf den Schutzheiligen aller Literaten berufen. "In mir gab es immer viel Don-Quixoterie nicht nur in der Politik, sondern auch in meinem Privatleben; ich konnte vor einer Ungerechtigkeit nicht mein kaltes Blut bewahren, noch weniger vor einem offensichtlichen Akt der Unterdrückung." Darum lebt Michail Bakunin, auch wenn er lang schon gestorben ist.

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SZ vom 30.05.2014/nema
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