Zum Tod von Merce Cunningham:Der Meister des Zufalls

Seine Arbeiten waren nicht immer leicht zu verdauen: Mit dem Choreographen Merce Cunningham stirbt die Tanzavantgarde des 20. Jahrhunderts.

Eva-Elisabeth Fischer

Bei einem Neunzigjährigen - und der Choreograph und Tänzer Merce Cunningham ist am 16.April dieses Jahres 90 Jahre alt geworden - kommt der Tod nicht als Überraschung. Und dennoch, just in dem Augenblick, da einen solch eine Todesnachricht erreicht, fragt man: Warum jetzt?, und denkt sich: zu früh.

Zum Tod von Merce Cunningham: Merce Cunningham über sich selbst: "Ich bin kein Tänzer geworden, ich habe schon immer getanzt"

Merce Cunningham über sich selbst: "Ich bin kein Tänzer geworden, ich habe schon immer getanzt"

(Foto: Foto: ap)

Seinen Nachlass hat Cunningham, so will es scheinen, wohl geordnet. Das berichtete die New York Times bereits in einem ausführlichen Artikel und löste damit in Teilen der Tanzwelt Empörung aus. Dass einer öffentlich vor dem Sterben ganz pragmatisch über das Danach nachdenkt, erscheint in einer Gesellschaft, die den Tod am liebsten verdrängt, ungehörig. Für Merce Cunningham muss das normal gewesen sein. Der buddhistischen Lehre nahe, mag ihm das Lebensende als Übergang in eine andere Energie gewesen sein. Wir wissen es nicht.

Sein Lebenspartner John Cage ist ihm nach nahezu einem halben Jahrhundert gemeinsamen Lebens und Wirkens vorausgegangen. Und es war einem keineswegs befremdlich, dass Merce, so nannten ihn alle, die ihn kannten und liebten - und wer ihn kannte, der liebte ihn -, dass Merce sich also mit dem Dahingeschiedenen täglich beriet.

Als erstes ein Skandal

Anders als Cages Kompositionen, die weltweit auf zahlreichen Programmen zeitgenössischer Musik zu finden sind, war (wie beim Werk der kürzlich gestorbenen Pina Bausch) das Pariser Opernballett das weltweit einzige, dem er Uraufführungen auf die Tänzerkörper choreographierte. 1962 passierte das erstmals - und war ein Skandal, denn die in Sachen Bühnenkunst konservativen Franzosen bekamen nichts von dem, was sie erwarteten: fragile Mädchen auf Spitze, Ballerinos in Strumpfhosen und jede Menge Pomp und Pleureusen in strahlendem Weiß oder üppigen Farben. Musik - wer redet da von Musik?

Es war Live-Elektronik, hervorgebracht von John Cage, David Tudor und Takehisu Kosugi, die den Zuschauern im Palais Garnier um die Ohren rauschte, und die, obgleich unabhängig von der Choreographie entstanden, auf merkwürdige, unerklärliche Art und Weise damit eine Symbiose einging.

Dann - keine Symmetrie: Cunningham fand sie langweilig und gar nicht schön. Er begriff den Tanz als zeit-räumliches Phänomen.Da Bewegung in jedem Teil des Körpers sich ereignen und entwickeln, da der menschliche Körper den Raum unbegrenzt in Höhe, Tiefe und Weite ausloten konnte, gab es für ihn unzählige Punkte im Raum und nicht nur den einen, den die Danse d'école im Bühnenzentrum und im einzelnen Tänzerkörper im Solarplexus imaginierte.

Es ging um die Bewegung

Und da man den Menschen an seinem Gang erkannte, sollte er auch, bitteschön, keinen Ausdruck in sein Gesicht legen, so wie es Cunningham, einem begnadeten Tänzer bei der mythenschwangeren Martha Graham, bis zum Exzess aufgegeben war. Um den Tanz, die Bewegung, den Bewegungsfluss, um nichts Anderes ging es ihm. Und um die Autonomie der einzelnen Künste, der Musik, der bildenden Künste.

Seine Stücke erarbeitete er mittels Zufallsoperationen, die er, analog zu John Cages Komponier-Methode nach dem chinesischen I-Ging für das Prozedere des Choreographierens übernahm. Man sieht ihn noch vor sich, wenn er konzentriert die Münzen warf und mit spitzem Bleistift auf ein Blatt Papier die Anzahl der Tänzer, deren Positionen im Raum und zueinander sowie die Dauer bestimmter Bewegungsphasen festlegte, welche er dann als einzigen Anhaltspunkt dem jeweiligen Komponisten des Abends mitteilte.

Das Handlungs- und Ausstattungsballett zählte nicht für ihn, Balanchine als Noten(er)zähler war ganz weit weg. Robert Rauschenberg oder die silbernen Helium-Kissen des Andy Warhol waren Merce Cunningham nah, Frank Stella und Jasper Johns, die Kunst der Installation, das Happening. Durch Cage, durch Tudor und Kosugi war die Fluxus-Bewegung nahe. Cunningham riss sie ein, die Wände der Guckkastenbühne, ließ seine Tänzer im Freien auftreten in den Straßenschluchten von Manhattan.

Seine Schule, seine Kompanie haben in den Westbeth Studios im West Village eine feste Adresse. Die Merce Cunningham Dance Company wird die kommenden zwei Jahre weiter existieren unter der Leitung seines seit 1980 dienstältesten Tänzers Robert Swinston. Er assistierte Merce, der wegen seiner Arthritis im Rollstuhl saß, klaren Kopfes wohlgemerkt, aber seinen Tänzern nichts mehr demonstrieren konnte.

Nach der Uraufführung von Merces Choreographie von Cages "Roaratorio", Joyces "irischem Circus", begrüßte John strahlend seine Freunde mit einer weißen Lilie in der Hand. Am Montag hat er die Totenblume Merce Cunningham überreicht. Mit ihm starb die Tanzavantgarde des 20. Jahrhunderts.

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