Kampf um Öl:Venezuelas schwarze Tränen

Öl hat sich zu einem Instrument der Selbstzerstörung Venezuelas verwandelt: Notizen über ein Land, das die Politik hat ausbluten lassen und das jetzt um das Recht kämpft, leben zu dürfen.

Gastbeitrag von Rodrigo Blanco Calderón

Am Abend des 24. Dezember sprach ich mit meiner Mutter. Sie sagte mir, da drüben in Caracas, da sei alles tot. Die Geschäfte geschlossen, die Straßen leer und eine große Stille über allem. 2018 hatte nur Unheil gebracht. Es gab zum Jahreswechsel nichts zu feiern. Man konnte nicht mal die Erleichterung spüren, dass das Jahr vorbei war. Denn es zeichnete sich ab, dass das nächste noch schlimmer werden würde.

Die Wirtschaft Venezuelas ist eine Ruine. Die Prognosen für 2019 lasen sich wie ein Todesurteil. Der Internationale Währungsfonds rechnete mit einer Inflation von 10 000 000 Prozent. Alles deutete darauf hin, dass es auch wirklich so kommen würde. Denn am 10. Januar würde Nicolás Maduro seine nächste Amtszeit antreten, die er über betrügerische Wahlen im Jahr 2018 errungen hatte. Das Ergebnis wird von mehr als 60 Ländern angezweifelt. Doch Maduro hatte die Macht noch fester im Griff als vorher. Die Opposition war zerstückelt und ohne gemeinsame Strategie, sie machte eine heftige Glaubwürdigkeitskrise durch.

Aber dann tauchte Juan Guaidó auf, der junge Politiker, der binnen weniger Wochen das bis dato Undenkbare geschafft hat: Er wurde zum eigentlichen Präsidenten Venezuelas. Diese Wendung wird ein kniffliger Fall für die Historiker werden, wenn einmal alle Details bekannt werden, die dazu führten, dass ein fast Unbekannter die Wünsche eines ganzen Landes nach Wandel materialisieren konnte. Und das, ohne Gewalt anzuwenden, ohne zur Waffe zu greifen und ohne den Rahmen der Verfassung zu verlassen. Juan Guaidó ist das Gesicht einer bürgerlichen Heldentat.

Man sieht in uns eine Helena von Troja, die ständig in Gefahr schwebt

Ich habe früher als Professor für literarische Theorie an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät an der Universidad Central in Caracas gearbeitet. Ich war total demotiviert. Mein Gehalt zerfloss wie Wasser, und das tägliche Leben war erdrückend. Anstatt an der Universität zu forschen, probierte ich die neuesten Überlebenstechniken der Caraqueños aus, der Bewohner von Caracas. Etwa, dass man Spülmittel auch zum Kleiderwaschen benutzen kann. Der Mangel an Nahrungsmitteln und Produkten des täglichen Bedarfs machte sich immer stärker bemerkbar. Ich fuhr zur Universität, ohne mich noch groß auf den Unterricht vorzubereiten. Mein Pessimismus wurde immer schlimmer.

Am 7. Oktober 2012 unterlag der oppositionelle Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles dem schon vom Tode gezeichneten Hugo Chávez. Da wusste ich, dass ich Venezuela verlassen müsste. Doch das klappte erst 2015. In Frankreich erhielt ich ein Stipendium für drei Jahre, um meine Doktorarbeit zu schreiben. So habe ich von Ferne beobachtet, wie die humanitäre Krise in meinem Land sich zuspitzte. Im Dezember 2016 fuhr ich nach Caracas und sah, wie meine Freunde abgemagert und eingeschüchtert waren, es war dramatisch. Man hatte gerade ausgerechnet, dass der durchschnittliche Venezolaner neun Kilo in einem Jahr verloren hatte.

Zwei Jahre später beschlossen meine Frau und ich, von Paris nach Málaga zu ziehen, um in Spanien eine Heimat zu finden (wie so viele Venezolaner). Wir leben seit zwei Monaten dort.

Die Berichte aus Venezuela, die wir jede Woche von unseren Verwandten erhielten, klangen nicht so, als würde eine Rückkehr bald möglich sein. Doch jetzt denke ich, dass der Wandel in Venezuela irreversibel ist. Natürlich wird ein Regierungswechsel nicht reichen, um die schwerwiegenden Probleme zu lösen, die durch zwei Jahrzehnte Chavismus über unser Land und über Lateinamerika gekommen sind. Venezuela ist ein globales Problem geworden, das viele Gespenster der Vergangenheit zurück ans Licht gebracht hat. Das verstellt manchmal den Blick auf unsere speziellen Eigenheiten.

Es haben sich in dem Streit über Venezuela zwei Gruppen formiert, die sich feindlich gegenüberstehen, die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten, die für einen politischen Wandel sind; und Russland, China, Kuba und andere Länder, die dafür sind, dass Maduro bleibt. Manche vermuten schon, dass wir vor einem neuen Kalten Krieg stehen. Oder dass der aktuelle Konflikt um Venezuela Züge der Kuba-Krise von 1962 trägt. Diese Interpretation stammt vor allem von der Linken. Die vermutet hier stets, dass hinter allem die verdeckten Interessen der Vereinigten Staaten am venezolanischen Öl stecken. In der Tat jedoch war die Abhängigkeit der USA vom venezolanischen Öl noch nie so gering wie heute. Anders verhält es sich mit China, dessen Abhängigkeit umgekehrt proportional gestiegen ist. Trotzdem wird den Chinesen von der Linken nicht unterstellt, sie hätten ein Interesse, sich einzumischen.

Das Land mit den größten Ölvorräten der Welt zu sein, war stets das Glück und das Unglück Venezuelas. Das Öl hat sich nicht nur, um Simón Bolívar zu paraphrasieren, in ein Instrument unserer Selbstzerstörung verwandelt. Es hat auch dazu geführt, dass wir von anderen Ländern weder als volljährig betrachtet werden, noch dass man uns zubilligt, überhaupt eigenständige Probleme zu haben. Man sieht in uns eher eine Helena von Troja, die ständig in Gefahr schwebt, von den USA geraubt zu werden.

Dabei hat die Verheerung Venezuelas das Land vor allem von innen ausbluten lassen, mit Tausenden, die der Gewalt und dem Hunger zum Opfer gefallen sind, dem Fehlen von Medikamenten oder dem Warten auf eine ärztliche Behandlung. Nach außen ist diese Verheerung sichtbar geworden durch eine Migrationswelle nie da gewesenen Ausmaßes: die Auswanderung von Millionen Venezolanern, die nun durch die Straßen Lateinamerikas vagabundieren und betteln wie die Flüchtlinge eines unerklärlichen Krieges. Um den venezolanischen Konflikt nachzuvollziehen, braucht es ganz neue Formen des Erklärens, wie diktatorische Systeme es schaffen können, moderne Demokratien zu verwüsten.

Und doch ist das Problem eher grundsätzlich. Es handelt sich längst nicht mehr um eine Auseinandersetzung zwischen Rechten und Linken. Es geht nicht um kalte Kriege, um aufgewärmte oder heiße. Der einzige Konflikt, den es in Venezuela gibt, ist der zwischen Leben und Tod. Mein Land kämpft um sein Recht zu leben.

Allein zwischen dem 21. und 26. Januar starben 35 Menschen durch die Gewalt der unterdrückerischen Kräfte während der Proteste. 791 Menschen wurden festgenommen, 696 allein am 23. Januar, dem Tag, an dem Juan Guaidó die Interimspräsidentschaft übernahm. Man muss davon ausgehen, dass die meisten Opfer jung sind. Einige der Verhafteten sind noch Kinder, unter ihnen eine 14-jährige Indigene, die im Amazonasgebiet unter dem Vorwurf festgenommen wurde, sie sei eine Terroristin.

Kampf um Öl: Der Schriftsteller Rodrigo Blanco Calderón wurde 1981 in Caracas geboren.

Der Schriftsteller Rodrigo Blanco Calderón wurde 1981 in Caracas geboren.

(Foto: Luisa Fontiveros)

Daneben kämpfen wir noch einen zweiten Kampf, den um die Kommunikation. Wir kämpfen nicht nur um unsere Freiheit, sondern wir müssen uns auch noch dafür rechtfertigen, etwa gegenüber amerikanischen Akademikern wie Noam Chomsky, der kürzlich ein Manifest veröffentlicht hat, unterschrieben von 60 Kollegen, die forderten, die Präsidentschaft Juan Guaidós nicht anzuerkennen und damit die "Einmischung" der Vereinigten Staaten in innere Angelegenheiten Venezuelas abzuwenden. Das Argument, das sie anführten, war von desolater Ironie: Noam Chomsky und seine Freunde glaubten, dass es ausgerechnet Guaidós Anerkennung sei, die zu einem Blutbad führen könnte und zur Instabilität des Landes.

Das Schlimme an dieser Art Meinungen ist, dass sie den nordamerikanischen Paternalismus angreifen, in dem sie eine andere Art nordamerikanischen Paternalismus benutzen: nämlich den der vermuteten Solidarität, der sich ausdrückt über die abgegriffene Formel des "Selbstbestimmungsrechts der Völker".

Diese Art Solidarität aber führt zu ganz anderen Formen von Grausamkeit und sie enthüllt die totale Unkenntnis darüber, wie Venezuela einst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine souveräne, moderne und reiche Demokratie war, die Nein sagte zu allen Formen des Totalitarismus. Venezuela distanzierte sich während der Regierungszeit Rómulo Betancourts vom Kuba Fidel Castros. Unser Land bot in den 1970er-Jahren vielen politischen Flüchtlinge aus Argentinien, Uruguay und Chile Zuflucht, die Schutz vor den dantesken Diktaturen Südamerikas suchten. In beiden Fällen richtete sich unsere Solidarität nicht nach den Koordinaten extremen politischen Denkens aus. Es war eine Frage elementarer Empathie und des Respekts für die Menschenrechte. Nichts anderes wünschen wir uns jetzt auch.

Rodrigo Blanco Calderón lebt im Exil in Málaga. 2016 bekam er in Paris den Prix Rive Gauche in der Kategorie ausländisches Buch.

Deutsch von Sebastian Schoepp.

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