TV-Sender MTV:TV-Knigge auf Speed

Nach Jahren voller Champagner, Knochenbrüche und Zungenküsse will der Sender MTV die Jugend zu besseren Menschen erziehen - mit den alten Mitteln.

Michael Moorstedt

Terry ist der perfekte Freund. Er ist laut, selbstverliebt und verbringt mehr Zeit im Badezimmer als die meisten Frauen. Er lügt und betrügt, und anstatt sich um seine Freundin zu kümmern zieht er mit seinen Kumpels um die Häuser und reißt in Nachtclubs andere Frauen auf.

TV-Sender MTV: Knigge auf Speed; AFP

Die Zeit nach Jackass: Bei MTV lernt man nun, dass man so besser nicht zum Vorstellungsgespräch erscheinen sollte.

(Foto: Foto: AFP)

Ryan ist der perfekte Sohn, er schläft lange und arbeitet wenig - wenn er wach ist, ist er wütend. Darunter leiden nicht nur seine Eltern, sondern auch sein Bruder und seine Freunde: Ryan wird schon bei den kleinsten Anlässen handgreiflich.

Wie gesagt, die beiden sind perfekt. Zumindest für MTV. Denn Terry und Ryan sind Protagonisten zweier neuer Reality-Shows des Senders. Also wird Terry zusammen mit elf anderen, ähnliche machohaften Typen vor seiner Freundin in der Tool Academy vor die Wahl gestellt, sich zu ändern oder von ihr verlassen zu werden. Auch Ryans Verhalten soll sich bessern. Dazu braucht es scheinbar etwas mehr Nachdruck. In Bully Beatdown lässt ihn der Sender mit einem Kickboxer in den Ring steigen, um mal seine eigene Medizin zu schmecken, Schmäh-rufe des Studiopublikums inklusive.

Mit der Showpremiere von Bully Beatdown, die MTV von Mitte Dezember an relativ lustlos und ohne größere Ankündigung abwickelte, ist ein Umdenken in Deutschland angekommen, das beim amerikanischen Muttersender bereits seit Sommer 2009 das Programm bestimmt. MTV, ein Network, dem Zeit seines Bestehens immer wieder vorgeworfen wurde, zum moralischen Verfall der Jugend beizutragen, möchte Gutes tun.

Und das, nachdem bei The Hills der verwöhnte Promi-Nachwuchs in den Hügeln über Los Angeles seinen Zynismus verbreiten durfte, nachdem die Stuntleute von Jackass ihre nihilistische Freakshow aufführten und nachdem sich unzählige Datingshows an allen möglichen Geschlechterorientierungen und -verwirrungen abgearbeitet haben.

Nach einer Dekade der medialen Dekadenz, nach Jahren voller Champagner, Knochenbrüche und Zungenküsse zeigt sich MTV mit neuem Gesicht. Der Sender versucht, sein Publikum - aus dem er praktischerweise auch die Darsteller für die vielen Reality-Shows rekrutiert - zu mehr Sittsamkeit zu erziehen.

Machs und Schläger

Neben den Machos und den Schlägern werden auch Drogen, Kriminalität und vorehelicher Sex (also sämtliche Irrungen und Wirrungen der Teenagerjahre) von MTV abgedeckt. In T.I.'s Road to Redemption hilft ein einst strauchelnder Rapper Straßenkindern, auf der rechten Bahn zu bleiben. From G's to Gents heißt eine weitere Show, in der ein weiterer Rapper erklärt, dass es bei einem Vorstellungsgespräch besser ist, die Gang-Tattoos unter einem sauberen Hemd zu verbergen.

In Gone too far hilft der früher selbst drogenabhängige DJ Adam Goldstein Junkies bei der Entgiftung. 16 and pregnant nimmt sich gefallener Mädchen an, hilft ihnen durch die Schwangerschaft. Und Nick Lachey, der MTV vor einigen Jahren seine Ehe mit dem Popsternchen Jessica Simpson zur publikumswirksamen Vivisektion überließ, begleitet angehende Tänzer und Sänger in Taking the Stage durch die Schwierigkeiten eines Künstlerlebens.

Helptainment heißen solche Formate im Jargon deutscher Fernsehmacher. Das Wort deutet bereits an, dass in den Shows neben Lebenshilfe vor allem die Unterhaltung im Mittelpunkt stehen soll. Die Verpackung, die Dramaturgie und Abläufe der Sendungen haben sich im Vergleich zu den früheren Exzess-Sendungen nur unwesentlich verändert. Stets sind es dramatische Stimmen aus dem Off und wacklige Handkameras, überzeichnete Emotionen und hyperaktive Moderatoren, die den Zuschauer durch die Sendung leiten.

Viel Bares und ein besserer Mensch

Nur dienen das gezeigte Blut und der angedeutete Sex nicht mehr dem Skandal, sie dienen der vermeintlichen Läuterung. Auch die Motivation der Darsteller bleibt gleich: Geld. 100.000 Dollar gibt es für den Gewinner der Tool Academy, immerhin 10.000 Dollar für den Bully, der im Ring übersteht. Viel Bares und die Aussicht, ein besserer Mensch zu werden - welcher Jugendliche kann da schon widerstehen?

Die Wende vom Görensender zum Gutmenschenlanal geschah aber nicht nur aus Einsicht oder einem neuen Gefühl von Bescheidenheit in Zeiten der Krise, eher spielte wirtschaftlicher Zwang eine Rolle. Die MTV-Quoten in Amerika sind zwar immer noch passabel, trotzdem hat der Sender seit 2003 fast 20 Prozent Marktanteil in der werberelevanten Zielgruppe (14- bis 49 Jahre) verloren. Statt einer knappen Million Haushalte damals, schauen heute nur noch etwas mehr als 700000 Haushalte zu. Die Stammzielgruppe erodiert zusehends - vor allem durch die Abwanderung ins Internet. Aber auch die augenscheinliche Re-Politisierung der Jugend vor der US-Präsidentenwahl 2008 hat die Chefetage zur neuen Ernsthaftigkeit bewogen.

"Wenn er seine Familie nicht respektiert, werde ich ihm beibringen, Schmerzen zu respektieren", sagt Tony "The Gun" Bonello, einer der als Faustkämpfer verkleideten Benimm-Lehrer in der ersten Folge von Bully Beatdown, kurz bevor es in den Ring geht. Das Ergebnis ist erwartbar. Rüpel-Ryan wird erst verhauen und dann mit der Familie versöhnt. Auch der Chauvi Terry ist nach einigen Liebes-Lektionen der Tool Academy und den dazugehörigen Demütigungen vor laufender Kamera ein neuer, ein besserer Mensch. er macht seiner Freundin prompt einen Heiratsantrag. MTV, der ehemalige Musiksender, wirkt inzwischen wie ein TV-Knigge auf Speed.

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