Türkische Chronik (XVII):War der Militärputsch vorhersehbar?

Türkische Chronik (XVII): Hande Fırats Buch nährt Zweifel an den Ereignissen vom 15. Juli. (Archivbild von Soldaten und Demonstranten am Taksim-Platz in Istanbul)

Hande Fırats Buch nährt Zweifel an den Ereignissen vom 15. Juli. (Archivbild von Soldaten und Demonstranten am Taksim-Platz in Istanbul)

(Foto: AFP)

Je mehr Details veröffentlicht werden, desto unklarer wird, was wirklich in der Nacht vom 15. Juli in der Türkei passiert ist.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

Am 15. Juli 2016 um 14 Uhr verlässt ein Major der Luftwaffe die Zentrale der Armee. Es sind nur seine Initialen bekannt: H. A. Er hat es eilig und ist sehr besorgt. Er hält ein Taxi an und will in das Stadtviertel Yenimahalle in Ankara. Die genaue Adresse kennt er nicht. "Fahren Sie mich zum MIT, zum Inlandsnachrichtendienst", sagt er.

Um 14.45 Uhr ist Major H. A. in der Zentrale des Geheimdienstes und trifft einen hochrangigen Beamten. Er erklärt, er habe Informationen über einen Militärputsch, der noch heute stattfinden solle. Möglicherweise - so ergänzt er in einer Version dieser Geschichte - solle der Chef des Inlandsnachrichtendienstes gekidnappt oder hingerichtet werden. Seine Informationen werden als glaubwürdig erachtet.

Zur Person

Yavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1956 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Für seine Arbeit wurde er 2014 mit dem European Press Prize ausgezeichnet. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schreibt regelmäßig Gastbeiträge. Deutsch von Jonathan Horstmann.

Dieses Treffen im Inlandsnachrichtendienst führte zu einer Welle kurzfristiger Terminänderungen in der türkischen Hauptstadt. Schon acht Stunden vor dem Beginn des Putsches hatten zahlreiche hochrangige Beamte also bereits Informationen darüber, was passieren würde.

Wir wissen das dank des gerade erschienen Buchs "24 Saat" ( "24 Stunden") von Hande Fırat. Fırat ist die Journalistin bei CNNTürk, der in der Putschnacht live ein Facetime-Interview mit Erdoğan durchführte. Über dieses Interview sagen viele, dass es zum Scheitern des Putsches geführt habe.

Fırats Buch ist ein Augenzeugenbericht über diese intensiven Stunden. Sie sprach mit Zeugen und sammelte Fakten. Das Buch wirft etwas mehr Licht auf den Verlauf der Ereignisse. Bis jetzt wurde fast gar kein Buch von unabhängigen Beobachtern über den Putsch veröffentlicht. Das ist nicht überraschend. Denn eine Autorin, die kritisch und eingehend die Hintergründe des Putsches prüft, riskiert es, angefeindet zu werden. Die AKP und die Regierung könnten ihr vorwerfen, Partei für die Terroristen zu ergreifen und zur sogenannten FETÖ, zum gülenistischen Terrornetzwerk, zu gehören.

Fırats Buch hilft auch dabei, mehr Fragen über den Putsch zu stellen. Zweifel an der offiziellen Version der Ereignisse werden genährt.

Wer ist der Major H. A.?

Die Geschichte über ihn blieb ein Geheimnis, bis kürzlich der AKP-Abgeordnete Selçuk Özdağ, Mitglied des Parlamentausschusses zum Putschversuch, sagte, nicht nur der Major, sondern auch ein einfacher Soldat habe seinerzeit über den Aufstand informiert. Beide, fügte Özdağ etwas bizarr hinzu, säßen seitdem in Untersuchungshaft, angeblich "zu ihrer eigenen Sicherheit".

Konsequenterweise hätte die Regierung die beiden Soldaten zu Helden erklären müssen. Stattdessen verbringen sie ihre Zeit hinter Gittern. Man fragt sich, warum. Auch fünf Monate nach dem Putschversuch, bei dem 246 Menschen getötet wurden, tappen die Journalisten, die herausfinden wollen, was wirklich in dieser Nacht passiert ist, im Dunkeln.

Viele Details passen nicht zur offiziellen Version der Ereignisse. Eines stammt von Oberst Davut Alas Aussage vor dem Parlamentsausschuss. Ala war Kommandeur einer Kaserne in Istanbul. Er sagte aus, dass er um 17.04 Uhr eine SMS erhielt, die an alle wichtigen Offiziere der Armee im Gebiet um Istanbul gesendet wurde. Die Nachricht listete mindestens zehn große Gebiete und alle wichtigen Land- und Seestraßen auf. Für diese Gebiete bestehe für die Zeit vom 15. bis 17. Juli hohe Terrorgefahr.

Ala kam das merkwürdig vor. "Normalerweise würde solch ein Alarm ein Gebiet nennen und einen Tag, aber nicht drei", sagte er. "Es war völlig klar, dass es sich hier um die Vorbereitung eines Putsches handelte." Niemand fragte, ob er seine Vorgesetzten informiert habe.

Was nach dem eiligen Besuch des Majors H.A. in den Gebäuden des Nachrichtendienstes passierte, schafft noch mehr Unklarheiten. Um 16.20 Uhr telefoniert Nachrichtendienst-Chef Hakan Fıdan mit dem stellvertretenden Generalstabsschef. Um 16.30 Uhr telefoniert er mit dem Generalstabschef Hulusi Akar. Um 18 Uhr schickt Fıdan seinen Stellvertreter in die Armeezentrale. Um 18.30 Uhr trifft er selbst Akar. Was zwischen 18.30 und 22 Uhr, der Zeit des Putschbeginns, passierte, ist mehr oder weniger völlig unbekannt.

Worüber sprachen Fıdan und Akar?

Einige sagen, Fıdan habe den General darüber informiert, dass in den Kreisen des Militärs möglicherweise ein Attentat auf ihn geplant werde. Er habe in diesem Zusammenhang den Akıncı-Flughafen erwähnt, das Strategiezentrum der Putschisten. Dem offiziellen Narrativ zufolge befiehlt Akar, mehr oder weniger gleichgültig, seinem Kommandeur für die Bodentruppen, er solle "hingehen und gucken, was da los ist". Der Kommandeur tut es. Auf dem Flughafen wird er entführt.

Währenddessen verlässt Fıdan, das Ziel der mutmaßlichen Attentatspläne, die Armeezentrale. Er bleibt in der Nacht, in der der Putsch losgeht, noch lange unerreichbar. Ein Zeitungsbericht sagt, er sei zu einer Geburtstagsfeier gegangen. Wir wissen auch, dass er weder Präsident Erdoğan noch Premierminister Yıldırım anrief.

Generalstabschef Akar zeigt sich auffällig gelassen

Ein anderes erstaunliches Detail ist, dass Generalstabschef Akar einfach in seinem Büro sitzen bleibt. Er ordnet ein Flugverbot für das Militär an, informiert aber nicht die gesamte Militärführung des Landes. Er bleibt merkwürdig gelassen, obwohl er keine Rückmeldung vom Kommandeur der Bodentruppen erhält, den er zum Akıncı-Flughafen geschickt hat.

Aus heutiger Sicht sieht es so aus, als ziehe er in dieser Situation nicht die richtigen Schlüsse. Er interpretiert die Pläne für ein Attentat auf Fıdan nicht als ernstzunehmende Bedrohung der nationalen Sicherheit und rechnet nicht mit der Möglichkeit eines Putsches.

Um 20.30 Uhr wird er von putschistischen Einheiten selbst als Geisel genommen. Zwei hochrangige Luftwaffengeneräle werden um 23 Uhr auf einer Hochzeit verhaftet. Das Chaos trifft sie scheinbar völlig ahnungslos.

Es scheint, als habe Akar damals seine Urteilskraft verloren - oder es gab ein anderes Motiv. Wussten Erdoğan und die Armee bereits, dass etwas brodelte? Der Journalist Fehmi Koru wies vor einer Woche auf zwei Texte des regierungsnahen und "gut informierten" Kolumnisten Fuat Uğur hin, die im April in der Zeitung Turkiye Daily erschienen.

Uğur behauptete darin, dass prominente Gülenisten sich im Frühjahr in Ankara versammelt und mit einigen Offizieren einen Coup geplant hatten. Er schloss den Text mit einer Warnung an diese Gruppe: "Der Staat und die Armeeführung wissen über alles Bescheid, was ihr tut. Sie sind vorbereitet auf das Verbrechen, das ihr begehen wollt."

Bei einem Prozessauftakt gegen 60 Offiziere, die sich während des Putsches am Angriff auf den Flughafen Istanbul-Sabiha Gökçen beteiligten, sagte der Staatsanwalt, dass sich heimlich die Putschisten vom 12. Juli bis in den frühen Morgen des 14. Juli in einer großen Istanbuler Kaserne versammelt hätten. Dieses Treffen dauerte 54 Stunden! Ist es wirklich möglich, dass die Armeeführung von Treffen, die so extrem lange dauern, nichts erfahren hätte? Schöpfte da niemand einen Verdacht?

Die AKP will Erdoğan nicht vor dem Parlamentsausschuss aussagen lassen

Verteidigungsminister Fikri Işik fragte vor einigen Tagen: "Wie kommt es, dass 150 Generäle einen Putsch planen und die Armeezentrale merkt davon nichts? Wir können uns nicht damit begnügen, einem einzelnen Stabschef die Schuld zu geben." Unklar ist auch die Rolle der Nato. Erfuhren sie trotz all ihrer geballten nachrichtendienstlichen Kompetenz nichts von den klandestinen Umtrieben in der türkischen Armee?

Der Parlamentsausschuss verweigerte bislang die Forderung der Opposition, dass die drei Schlüsselfiguren der Putschnacht, Präsident Erdoğan, Generalstabschef Hulusi Akar und der Chef des Nachrichtendienstes Hakan Fıdan vor dem Ausschuss aussagen. Die Mitglieder des Ausschusses, die die AKP stellt, stimmen stets dagegen.

Klar wird, dass sowohl Akar als auch Fıdan an diesem Tag nicht ihrer Verantwortung nachgekommen sind. Sie verpassten es, den Staatsapparat zu informieren. Seltsamerweise sind sie immer noch im Amt. Wie kommt es, dass so viel darauf hinweist, dass der Putsch antizipierbar gewesen wäre? Der Nebel um die Ereignisse des 15. Juli bleibt dicht.

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