Theater:Schwelgen im Wir-Gefühl

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"Outside" vom russischen Regisseur Kirill Serebrennikov huldigt dem chinesischen Dichter Ren Hang. (Foto: Christophe Raynaud de Lage)

Eindrücke vom Festival in Avignon, wo ein Imperativ des Mitmachens zu herrschen scheint: Braucht das Theater überhaupt noch Kritik?

Von Joseph Hanimann

Der Notizblock ist leer. Das immersive Mitmachtheater, das allmählich das Theater des zuschauenden Mitfühlens und Mitdenkens ablöst, verlangt kein aufmerksames Mitschreiben des Kritikers mehr. Dieser kommt sich oft geradezu überflüssig vor. Auch in Avignon, jenem Ort, wo im Papstpalast, in den Kirchenruinen und zerfallenen Klosterkreuzgängen einst das Echo der großen Bühnenfiguren widerhallte. An die dreißig Produktionen wurden beim diesjährigen Festival gezeigt, das am Dienstag zu Ende geht, und über fünfzehnhundert im Off-Programm. Wirklich Herausragendes war nicht dabei, etwas bedrückt verlässt der Kritiker die Theaterstadt. Es kommt ihm vor, auch seine Rolle sei abgeschafft, das Theater komme heute bestens ohne seinen Beitrag aus, im Wechselspiel zwischen Bühnenhandlung und kritischer Deutung.

"Stecken Sie bitte nun alle persönlichen Gegenstände weg", sagt im Stück "£¥€$" der Truppe Ontroerend Goed aus Gent die Spielleiterin zu den sieben am Tisch sitzenden Theaterbesuchern. Denn die Tischfläche muss frei sein, über sie werden im zweistündigen Monopoly, dessen Titel auch als "Lies" (Lügen) zu lesen ist, gleich die unter Anweisung der Croupière gebotenen Millionen hin- und herwandern. An anderen Tischen im Raum sitzen andere Spielrunden. Es gilt, nicht nur individuell gegen die anderen Tischgenossen möglichst viel Gewinn herauszuschlagen, sondern auch mit ihnen gemeinsam gegenüber den anderen Tischen zu expandieren. Schwarzgewandetes Personal schwirrt mit immer neuen Zahlen von Tisch zu Tisch, und von der Raummitte aus wird das Auf und Ab der jeweiligen Obligationswerte sowie das Schwanken der Ratings für die einzelnen Tische, zwischen A+ und D-, bekanntgegeben. Dies solange, bis die Spekulationsblase platzt und mehrere Tischrunden vor dem Kollaps stehen, mit der Ankündigung, dass nur eine von ihnen vom System gerettet werden kann. Über den Pleitiers geht dann das Licht aus, die Teilnehmer dieses Tisches sitzen im Dunkeln, ihre Obligationen sind nichts mehr wert. Auch die anderen Tische haben in der Krise verloren. Trotzdem rafft man sich schon zur nächsten Spekulationsrunde auf.

Man verlässt das Spektakel mit einem Schuldschein aus Spielgeld in der Tasche

Kapitalismuskritik aufgrund bloßen Wissens und kritischen Denkens sei unvollständig, lautet die Grundüberzeugung hinter dieser Aufführung. Durch eine ausgeklügelte Spielsituation sollen die Zuschauer - pardon: die Teilnehmer - die Faszination der Wertschwankungen, die Adrenalinschübe und Nervenkitzel eines verrücktspielenden Systems am eigenen Herzschlag erfahren. Das gelingt auch vorzüglich, das Spektakel ist unterhaltsam. Doch verlässt man es am Schluss mit dem persönlich ausgestellten Schuldschein aus Spielgeld in der Tasche wie einer, der gerade bestätigt bekam, dass Kasino und Börse etwas miteinander zu tun haben.

Ähnlich banale Erfahrungen gab es auch im Stück "O Agora que demora" (Die Gegenwart, die überläuft) der Brasilianerin Christiane Jatahy (SZ vom 8. Juli). So geschickt dort im Wechsel zwischen Dokumentarfilm und Bühnenspiel die Situation syrischer, iranischer, palästinensischer, südafrikanischer und brasilianischer Heimatvertriebener mit dem Schicksal des Odysseus und Aeneas verglichen wurde, so forciert wirkte die ständige Aufforderung der aus dem Saal agierenden Darsteller ans Publikum - zum Mitsingen, Mitklatschen und Mittanzen. Als sollte angesichts der Konflikte in der Welt partout ein wohliges Wir-Gefühl geschaffen werden.

Auf eher humoristische Art geschah das im Ein-Mann-Stück "Phèdre!" des Schweizers François Gremaud, das in Avignon von Romain Daroles gespielt wurde. Die aus Lausanne kommende Produktion, Teil eines besonderen Schweiz-Programms im diesjährigen Festival, ist aus einem Jugendtheaterprojekt hervorgegangen. Die klassische "Phädra" von Racine und ihr für uns coole Zeitgenossen schon unbegreifliches Drama, die leidenschaftliche Liebe zum Stiefsohn Hippolyte nicht eingestehen zu dürfen, wird im Stück "Phèdre!" nicht gespielt, sondern durch einen Conférencier mit allerlei Wissenswertem zur mythologischen Figur und zum Versmaß der Alexandriner umspielt.

Die Aufführung dieser witzig geschriebenen Textvorlage ist brillant. Theater wird hier zum Theaterkommentar und macht uns Zuschauer zu Komplizen eines so klugen wie sympathischen Spiels, über das allerdings nicht mehr zu sagen ist als dies, dass die Hauptsache fehlt.

Politischer wirkt das vereinnahmende Wir-Ritual in "Outside", dem neuen Stück des russischen Regisseurs Kirill Serebrennikow. "Free Kirill" steht auf dem T-Shirt der Darsteller, wenn sie zum Schlussapplaus auf die Bühne treten. Der bis vor kurzem in Russland unter Hausarrest gestellte Regisseur darf sein Land nicht verlassen und musste die Endproben für Avignon aus der Ferne seines Moskauer Gogol Centers leiten. "Outside" ist eine Huldigung an den chinesischen Dichter und Fotografen Ren Hang, der sich vor zwei Jahren das Leben genommen hat. Mit diesem in China wegen seiner Tabubrüche schikanierten Künstler suchte Serebrennikow auf der Bühne einen Dialog herzustellen, in welchem das künstlerische Eingeschlossensein durch die erotische Fantasie - der Regisseur nennt es "Pornografie" - aufbricht und sich auch politisch entlädt.

Was die ästhetisch geschliffene Szenenfolge mit üppigen Blumengebinden um die nackten Frauen- und Männerkörper vor uns entstehen lässt, wirkt aber wie ein kolorierter Abriss jener politisch-erotischen Blumenrituale, die schon Jean Genet in seinen homosexuellen Text- und Filmvisionen aus dem Gefängnis entwarf - allerdings ohne jede Aussicht auf die Wonne der Lusterfüllung. War bei Genet die Ahnung von der Vereinigung der Körper noch präsent, zeigt Serebrennikow nur noch die kalte Pose prachtvoll verschlungener Leiber. Den Zuschauern bleibt am Schluss, applaudierend zu bestätigen: Ja, Kirill Serebrennikow muss freikommen!

Dass der kritische Blick über den Dingen stehe, wird inzwischen stark bezweifelt

Dass dem Wechsel zum "postdramatischen" Theater irgendwann auch die "postkritische" Wende folgen würde, erscheint nicht erstaunlich. Diese ist in Frankreich gerade ausgerufen worden. "Postcritique" heißt ein kollektiv verfasstes Buch junger Philosophen und Literaten, das dem übergeordneten Urteilsanspruch des kritischen Geschäfts ein Ende setzen will. Von Kant über Karl Marx bis Adorno und Michel Foucault laufe die Grundüberzeugung, dass der kritische Blick über den Dingen stehe und Klarheit in die Verworrenheit der Welt bringen müsse, schreibt der Herausgeber Laurent de Sutter. "Dieser Gedanke macht uns dumm", findet der Autor, denn die Kritik stehe nicht über den Dingen, sondern mittendrin und müsse sich neu erfinden.

Dazu hätte man in Avignon gern einen Beitrag geleistet. Die dafür geeigneten Aufführungen machten sich in diesem Jahr aber rar. Auch die kluge Inszenierung von Maurice Maeterlincks selten gespieltem Stück "Pelléas et Mélisande" durch die junge Regisseurin Julie Duclos kam über solides Handwerk kaum hinaus. Die zwischen zeitloser Märchenwelt und schwelendem Weltuntergang spielende Handlung im Reich des kranken Königs Arkël wird mit den Mitteln von Filmsequenzen und Theaterspiel geschickt auf unsere heutige, nervöse Zukunftserwartung hin abgeklopft. Das vom dichten Wald umgebene Schloss Allemonde, zu dem das Sonnenlicht nur spärlich durchdringt, hat auf Duclos' Bühne allen romantischen Ballast verloren und wirkt wie ein neubürgerliches Loft, in dem man unter horizontal einfallendem Morgen- und Abendlicht sanft miteinander umgeht.

Selbst das Eifersuchtsdrama um Mélisande zwischen den Brüdern Golaud und Pelléas bedrückt uns mehr durch die zurückgehaltene als durch die sich entladende Gewalt. Auf halbtransparente Leinwände projizierte Vegetationsmuster überziehen die Bühne mit einem Schleier aus Naturzauber und Erstickungsvision. Doch bleibt das Spiel der Darsteller, abgesehen von Alix Riemer als zugleich temperamentvolle und rätselhafte Mélisande, schal und flach. Und so endet auch dieses Festival mit den zwischen Homer und Vergil hoch gehängten Themen von Migrationsdrama und Zivilisationskrise. Der Anspruch wurde nicht eingelöst.

© SZ vom 23.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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