Theater:Laufen lassen

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Erproben bei Frank Castorf die „Raubtierordnung“ der Menschen auf dem Billardtisch: Junganwalt Felix Spät (Alexander Scheer,links) und ein Transgender-Detektiv (Jan Bülow, rechts). (Foto: Matthias Horn)

"Die Welt wird entweder untergehen oder verschweizern": Frank Castorf inszeniert am Schauspielhaus Zürich Friedrich Dürrenmatts Roman "Justiz" - mit Anleihen beim Krimi Noir, beim Billard und bei sich selbst.

Von Christine Dössel

Dieser Theaterabend, so grell er ist, flirtet mit dem Krimi Noir. "Nighthawks"-Atmosphäre, Neonlichtreklame, nächtliche Bar- und Jazzmusik. Es regnet zwischendurch Katzen und Hunde, auch der Alkohol fließt in Strömen. Im Rotlichteck auf Aleksandar Denićs Bühnengehäuse stehen knapp bekleidete Nutten, in den Hinterzimmern wird gekokst und gekotzt. Die Rolle des Hardboiled Detective, der einen ominösen Auftrag annimmt, obliegt Alexander Scheer. Zumindest wirkt sein Rechtsanwalt Felix Spät anfangs wie ein Philip Marlowe, genregerecht Trenchcoat und Bogart-Hut tragend. Später wird er dieses Outfit gegen einen Popstar-Glitzeranzug tauschen, der erfolgreich den David-Bowie-Touch unterstreicht, mit dem der schöne Scheer so gerne kokettiert. Und der dann ja auch besser passt zu dem Porsche fahrenden, Whisky saufenden, sexuell aktiven "Hurenanwalt", als welcher der mittellose Gerechtigkeitsfanatiker Spät erst in die besseren Kreise aufsteigt und dann verkommt. Er endet als Winkeladvokat im Stüssital.

Nicht alles, was lange währt erfüllt Castorfs Diktum von der "produktiven Überforderung"

Denn weder sind wir hier in einem Krimi der schwarzen Serie noch überhaupt auf amerikanischem Großstadtpflaster, sondern in der kleinen, feinen Schweiz, wo der Berliner Ex-Volksbühnen-Chef Frank Castorf als Gast am Schauspielhaus Zürich einen urschweizerischen Stoff inszeniert hat: den Roman "Justiz" von Friedrich Dürrenmatt. Es ist Castorfs erste Beschäftigung mit dem 1990 verstorbenen Schriftsteller, der seinen Geschichten die jeweils "schlimmstmögliche Wendung" abverlangte und nicht zimperlich war bei der Abrechnung mit seinem Land und seinen Leuten. "Justiz" ist auch ein perfider Heimatroman. Castorf verschärft das Schweiz-Bashing noch, indem er für die Geschichts- und landeskundlichen Exkurse die Geheimwaffe Ueli Jäggi zum Einsatz bringt. Der stellt sich hin wie ein Stand-up-Comedian und bewältigt Textmassen wie ein Schaufelbagger. Auf Schwyzerdütsch.

Alles beginnt damit, dass der wegen Mordes zu 20 Jahren Haft verurteilte Kantonsrat Dr. h.c. Kohler (Robert Hunger-Bühler als ungreifbarer Wirtschafts-Mephisto mit zackigem Ansagerton) dem Junganwalt Spät viel Geld anbietet, damit dieser seinen Fall noch einmal untersucht - und zwar unter der Annahme, er sei unschuldig. Eigentlich unmöglich, denn Kohler ist erwiesenermaßen ein Mörder. Er hat in einem Zürcher Edelrestaurant vor den Augen der Gäste einen Professor erschossen und die Tat auch nie bestritten.

Der Mann ist ein Spieler, genauer: ein Billardspieler, der weiß, wie man Gegner schlägt, indem man über Bande spielt ("à la bande"); und so bringt er auch aus dem Gefängnis heraus ein paar Köpfe zum Rollen, kommt schlussendlich sogar wieder frei. Die krude Logik, mit der sich das vollzieht, indem die Wirklichkeit nur als ein "Sonderfall des Möglichen" betrachtet wird (und damit auch als anders denkbar), ist so tricky wie faszinierend. "Justiz" ist daher auch weniger ein Krimi als ein philosophisches Gedankenspiel.

Großartig der bitterkomische Sarkasmus, mit dem Dürrenmatt die Kluft zwischen Recht(sprechung) und Gerechtigkeit aufreißt und mit schier biblischem Zeigefinger auf den Systemfehler weist. Wie er dabei nicht nur dem Schweizer Großbürgertum, sondern auch der Wahrheit als solcher einen Zerrspiegel vorhält. Es geht um Vergewaltigung, Machenschaften, Waffenhandel. Um einen Racheakt von intellektueller Präzision. Von der "Raubtierordnung" der Menschen ist die Rede und von "Gesellschaftsmathematik". Wenn es an einer Stelle heißt: "Die Welt wird entweder untergehen oder verschweizern", dann weiß man nicht, was schlimmer wäre.

Das Geschehen spielt, wenn nicht in Nobelfresstempeln und teuren Villen, im Zürcher Kneipen- und Rotlichtmilieu der Fünfzigerjahre. Aleksandar Denić zitiert in seiner gewohnt verwinkelten, hier aber kühl modernistischen Drehbühnenarchitektur aus Glas und Beton reale Bauten der Stadt: vom Corbusier-Haus über ein populäres Rondell-Café am Bellevue bis zu einem einschlägig bekannten Pornokino. Eine Bahnhofsuhr zeigt die Echtzeit an. Fünfeinhalb Stunden werden vergangen sein, wenn um halb eins in der Nacht die Aufführung zu Ende ist. Das ist, wie so oft bei Castorf, mindestens eine Stunde zu viel. Nicht alles, was lange währt und ungezügelt gärt, erfüllt Castorfs Diktum von der "produktiven Überforderung".

Die Romanlektüre sei als Vorbereitung auf diesen Theaterabend jedenfalls empfohlen, sonst wird man nicht allzu viel verstehen. Zwar durfte Castorf diesmal keine Fremdtexte hineininszenieren (das hat der Diogenes Verlag untersagt), und er hält sich inhaltlich tatsächlich ziemlich genau an die Buchvorlage. Aber inszenatorisch ist das ein solches Kuddelmuddel mit oft undurchsichtigen Doppel- und Mehrfachbesetzungen von sich selbst überlassenen Schauspielern im hysterisch kreischenden Rollenwechselmodus, dass man schon mal den Anschluss, wenn nicht den Durchblick oder gar die Nerven verliert.

Aus Chaos, Schlampigkeit und Exzess entwickelt Castorf die lässigsten Bilder

Die dubiose Romanfigur Monika Steiermann, eine fiese Zwergin und Erbin eines Riesenunternehmens mit Ambitionen im internationalen Waffengeschäft, hat Castorf mit seinem neunjährigen Sohn Mikis Kastrinidis besetzt. Der ist zuckersüß und darf Klavier spielen und hat rein gar nichts von der lüsternen Durchtriebenheit dieser Horrorfrau, deren Part sich dann auch andere teilen, bis das Personenchaos komplett ist. Es gibt auch noch eine "falsche" Monika Steiermann, die im Auftrag der echten ein zügelloses Leben führt, bei Julia Kreusch ein Wesen zwischen Weißclown und Nixe, das von einem Dr. Benno schwer verprügelt wird. Doktor wer? Egal.

Schon bei Dürrenmatt liest sich das alles wie ein seltsamer Drogentrip mit grotesken Personen und Arabesken. Insofern ist "Justiz" durchaus anschlussfähig für Castorfs Exzesstheater in der Nachfolge seiner legendären Dostojewski-Erkundungen. Die in den Eingeweiden der Bühne live gefilmten, vorne auf Videoleinwänden übertragenen Sex- und Saufgelage; die stöckelnd (und hier allzu dekorativ) ihre Luxuskörper ins Spiel bringenden Erotikdamen und nicht zuletzt der bis an die Grenze des Wahnsinns sich verausgabende Scheer als Antiheld Spät mit seinem naiv anmutenden Gerechtigkeitssinn - das alles wirkt wie Dostojewski à la Castorf pur und schaut auch so aus. Manches wirkt da nicht nur wie ein Déjà-vu, sondern wie ein müder Abklatsch.

Dann wieder Szenen von ureigener Hass- und Spielenergie. Etwa wenn Nicolas Rosat als Staranwalt Stüssi-Leupin seinem so viel unbedarfteren Kollegen Spät klarmacht, wo der Hammer hängt und ihn dafür splitternackt bei sich zu Hause im wohnzimmereigenen Rotlicht empfängt, ganz machtbewusstes Alphatier, feist und bräsig. Stark in seiner drogenfiebrigen Transgender-Intensiät ist auch der junge Jan Bülow in der Rolle eines dekadenten Privatdetektivs. Ein Schauspieler, der Alexander Scheer auf glasiger Augenhöhe Paroli zu bieten weiß. Die Homoerotik, die dieser halb nackte Faun ins Spiel bringt, ist im ausgelaugten Castorf-Luder-Milieu eine reizvolle neue Farbe.

Als Regisseur ist Castorf an diesem Billardabend der Impulsgeber mit dem Queue. Er stößt an - und schaut, wohin die Kugeln rollen. Da ist viel Leerlauf, Chaos und Schlampigkeit. Aber das Spiel als solches hat doch einen Erlebnischarakter. Castorfs Live-Film-Theater produziert noch immer die coolsten, lässigsten Bilder. Nirgends sind Schauspieler so sexy, und allein der Soundtrack von William Minke ist den Abend wert. Die von Dürrenmatt 1985 nachgelieferte Aufklärung im dritten Teil des Romans lässt Castorf von Irina Kastrinidis, Robert Hunger-Bühler und Ueli Jäggi nur noch rezitieren. Ellenlang. Als seien alle Kugeln und Ideen schon versenkt. Rien ne vas plus. Es reicht dann ja auch.

© SZ vom 17.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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