SZ-Serie: Was ist Heimat?:Ein gutes Gefühl

SZ-Serie: Was ist Heimat?: Aus diesem Paradies der Erinnerungen kann man nie vertrieben werden: Kolorierte Lithografie von Ludwig Richter zu den "Hausmärchen" der Brüder Grimm.

Aus diesem Paradies der Erinnerungen kann man nie vertrieben werden: Kolorierte Lithografie von Ludwig Richter zu den "Hausmärchen" der Brüder Grimm.

(Foto: INTERFOTO, Bildarchiv Hansmann; photocase; creativ commons; Bearbeitung SZ)

Die Liebe der Deutschen zu ihrer "Heimat" ist noch nicht alt, aber dafür umso heißer. Über die Fieberkurve eines oft missbrauchten Begriffs.

Von Gustav Seibt

Heimat: Das sind die ersten Erfahrungen, der vertraute Raum, in dem man laufen und sprechen lernte; das sind die Nachbarn und Freunde, das leckere Essen, die gewohnten Feste, die Sicherheit des Daseins in der Elternwelt, das Paradies der Erinnerung, aus dem man angeblich nicht vertrieben werden kann. Heimat ist eine Landschaft. Dann aber ist Heimat der Ort, den man verlassen muss, um in der Welt etwas zu werden, der Ort von Abschied und vielleicht Heimkehr.

Was Heimat bedeutet, erfährt man, wenn man sie verlässt oder verliert, wenn sie in Frage gestellt ist. "Heimat", dieses urdeutsche, in andere Sprachen schwer übersetzbare, politisch oft missbrauchte Wort, wurde in früheren Zeiten, vor dem 19. Jahrhundert, nur sehr selten gebraucht. Sein Aufstieg im deutschsprachigen Wortschatz begleitet die Moderne seit der Sattelzeit um 1800. Vorher war es kaum vorhanden. Das zeigen die Befunde von Sprach- und Literaturgeschichte.

Was ist Heimat?

Jeder Mensch hat eine Heimat. Oder nicht? Oder auch zwei? Eine Artikelreihe untersucht die Ver- und Entwurzelung in bewegten Zeiten. Alle Texte lesen.

Die Worthäufigkeitszählungen des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache vermerken pro einer Million Wörter in repräsentativ zusammengestellten Textkorpora bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts Frequenzen im niedrigen einstelligen Bereich. Um 1600 liegt der Wert bei knapp unter dreimal, um 1640 bei über viermal, 1740 immer noch auf dem gleichen Niveau. Erst unmittelbar nach 1800 springt die Frequenz auf über 26-mal pro einer Million Wörter. Es ist die Zeit der napoleonischen Kriege und der aufblühenden Romantik.

Steil nach oben gehen die Ziffern aber erst im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts, um kurz vor 1900 ihr bisheriges Allzeithoch zu erreichen. 1840 zeigt eine Frequenz von etwa 53 pro einer Million, um 1890 von fast 70. Dieses hohe Niveau wird in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr ganz gehalten (1940: 66), bleibt aber hoch, um bis 1990 spürbar abzusinken (58). Seit 2010 ist wieder ein Anstieg zu beobachten, auf eine Frequenz von fast 64 Verwendungen pro einer Million Wörter.

Diese Fieberkurve des Heimat-Begriffs kann sich jeder auf der Seite des Digitalen Wörterbuchs vor Augen führen (www.dwds.de). Denn eine Fieberkurve ist es. Sie folgt unübersehbar den Rhythmen der neuzeitlichen deutschen Sozialgeschichte mit der beginnenden Industrialisierung und den Auswanderungswellen im frühen 19. Jahrhundert, sie erreicht daher ihren Gipfel kaum zufällig während des Verstädterungs- und Industrialisierungsschubs vor 1900, um in der voll entfalteten Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts konstant hoch zu bleiben.

Auffällig ist, dass die beiden Weltkriege diese Konjunkturen wenig beeinflussten, während die Konsumgesellschaft der Nachkriegszeit die Kurve absinken ließ. Der jüngste Anstieg verrät etwas von Globalisierungserfahrungen und Migrationsschüben. Sie haben Heimat aus einem kulturellen wieder zu einem politischen Thema werden lassen.

Dem Befund der Wortstatistik entspricht der Blick in die Literaturgeschichte. Mit der modernen Heimatliteratur und ihren Dorfgeschichten geht es in deutscher Sprache erst nach 1830 los. Sie lösen die vormoderne Bukolik ab, jene aus der Antike stammende idyllische Hirtendichtung, die schon immer gegen Stadt und höfische Welt in Stellung gebracht wurde, aber ohne die Geschichts-, Beschleunigungs- und Verlusterfahrungen der modernen Heimatliteratur. Diese zeigt etwas Neues, nicht nur bei Klassikern wie Jeremias Gotthelf, Adalbert Stifter, Gottfried Keller oder Wilhelm Raabe, sondern auch in der populären Massenliteratur wie beispielsweise den Romanen Ludwig Ganghofers: eine historisch bedrohte Lebenswelt. "Heimatromane" sind seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein gängiges Genre der populären Massenliteratur, heute gern in der Abzweigungsform des Regionalkrimis.

Die deutschsprachige Literatur hat im 19. Jahrhundert kaum Großstadtromane wie die der Franzosen und Engländer hervorgebracht, dafür aber zahlreiche Novellen und Bildungsromane, die von altständischen Verhältnissen, schwindender Natur, aufbrechender Jugend handeln, während die Welt der Städte und das Maschinenzeitalter erst am Horizont erscheinen. Heimat ist hier traulich und bedroht zugleich, während die Welt der Städte nicht nur Dreck und Fabriken zeigt, sondern auch Anonymität, Dekadenz und Nervosität, die moderne Entwurzelung. Wer Literatur- und Sozialgeschichte des deutschen 19. Jahrhunderts nebeneinanderlegt, erkennt eine erstaunliche Disparität: bei der Literatur ein wehmütiges Adagio, in der Gesellschaft ein Agitato accelerando.

Hat das mit dem Wort "Heimat" selbst zu tun, das es in diesem Zuschnitt in den Nachbarsprachen nicht gibt? Wörter und Begriffe können Denkformen stabilisieren, sie ordnen die Wahrnehmung. "Heimat" taucht in den Begriffsgeschichten und Wörterbüchern der politisch-sozialen Sprache nicht auf, aber das bedeutet nicht, dass der Begriff keine politischen und gesellschaftlichen Implikationen hat.

Das Vaterland wird zum Land der Väter

Das kann der Vergleich mit den romanischen Sprachen erläutern. Die französischen, italienischen und spanischen Wörterbücher übersetzen "Heimat" mit "patrie" oder "patria". Das aber ist das "Vaterland", das auch in der älteren deutschen Sprache durchaus den Nahbereich des Herkommens bezeichnen konnte. "Vaterland", das war noch um 1800, etwa bei Goethe, der von einem patriarchalischen Fürsten regierte Kleinstaat oder die heimische Reichsstadt. "Patrie" und "patria" aber wurden in derselben Zeit pathetische Wörter für das große, moderne Gebilde der Nation, für Gemeinschaften von vielen Millionen. Für eine solche Nation wäre die deutsche "Heimat" ein viel zu kleiner, zu heimeliger Begriff. Man kann zwar auch Deutschland als seine "Heimat" bezeichnen, aber dann fast immer gegenüber Fremden.

Der oft geäußerte Verdacht, Heimat und Nationalismus gehörten zusammen, ist historisch ohnehin unzutreffend. Im Gegenteil hat wenig so sehr zur Schwächung der vertrauten Heimatumgebungen beigetragen wie der moderne Nationalstaat. Der Nationalstaat ersetzte Herrschafts- und Gesellschaftformen auf Sichtweite durch rationale Verwaltungen. Er brach in die Lebenswelten ein als Steuer- und Militärstaat, mit Bürokratie und Wehrpflicht.

Die persönlichen Loyalitäten gegenüber einem Monarchen und seiner Dynastie oder den Feudalherren ersetzte die Nation durch Staatsbürgerschaft, durch eine abstrakte Staatssymbolik mit Fahnen und Hymnen, durch Geschichtsmythen und Ideologien, die mithilfe der allgemeinen Schulpflicht, eines zentral gesteuerten Ausbildungswesens und nicht zuletzt durch die Presse vermittelt wurden. Aus Dorfgenossen wurden Mitbürger. Die einst regional und ständisch verfasste Gesellschaft spaltete sich in überregionale Klassen und Parteien. Mit urtümlichen lokalen Gemeinschaftsgefühlen war es vorbei. Die moderne Nation ist mit den Worten des amerikanischen Politologen Benedict Anderson nur noch eine "vorgestellte Gemeinschaft". Das gilt für alle europäischen Länder - man lese nur nach, wie in Tomasi di Lampedusas Roman "Der Leopard" die italienische Nation ins alte Sizilien einbricht.

In vielen Einzelfällen aber wird das Wort "Heimat" in andere Sprachen auch mit "casa", "maison" oder "home" übersetzt, was einer älteren deutschen Bedeutung entspricht, die "Heimat" als "Heim", als "Zuhause" verstand. Wer die Besonderheit des Heimatbegriffs jenseits gefühliger Stellungnahmen erfassen will, kann kühl feststellen: Er liegt in der Mitte zwischen der "casa" und der "patria" der romanischen Sprachen, also zwischen dem Heim und der Nation. Nur das Englische hat mit dem emotional viel weniger aufgeladenen "homeland" eine ähnliche Skalierung.

Die Heimat ist also größer als die Familie und kleiner als das Vaterland. Damit beschreibt sie eine Sphäre von "Gemeinschaft" vor dem Abstraktum der modernen "Gesellschaft", eine weitere spezifisch deutsche Unterscheidung. "Heimat" wird so zu einer eigentümlich vorpolitischen Sphäre, die mit allerlei Gefühls- und Erinnerungswerten aufgeladen wird.

Dieser zunächst so unpolitisch wirkende Raum aber ist eben doch politisierbar, und dann können gute Gefühle giftig werden. Wer die Nation der Staatsbürger organisch aus Heimat und Gemeinschaft erwachsen lässt, überträgt die Forderung nach Vertrautheit und Homogenität auf ein politisches Großgebilde. Völkisches Denken orientiert sich an den kleinen Gemeinschaften auf dem Land, nicht an Städten. Das Vaterland, "la patrie", wird dann zum familiären "Land der Väter", das sich nicht verändern soll. Wer die Gesellschaft gern als Dorfgemeinschaft hätte, wird Fremde als Bedrohung verstehen.

Verantwortungsvolle Politik ist gut beraten, solche Emotionen ernst zu nehmen

Wer Heimat aber bedroht sieht, ruft leicht den Notstand aus, und so verführen Begriffe wie "Heimatschutz" oder "Heimwehr" zur Selbsthilfe im Windschatten einer nationalen Politik, der man nicht mehr vertraut. Gerüchte machen die Runde: Angeblich werden "Weihnachtsmärkte" zu "Wintermärkten" umbenannt, lautet ein besonders hartnäckiges, das oft widerlegt wurde. Man werde "fremd im eigenen Land", soll mit solchen Gerüchten bewiesen werden.

Verantwortungsvolle Politik ist gut beraten, solche Emotionen nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Den Drang zu kleinen Gemeinschaften gibt es überall in Europa: Regionen begehren auf gegen Nationalstaaten mit ihren verhassten Hauptstädten und ihren abgehobenen politischen Eliten. Man würde gern unter sich bleiben, ohne dabei allerdings auf die Vorteile eines großen gemeinsamen Markts für die eigenen Regionalprodukte zu verzichten.

Dabei sind die Dörfer heute schon längst nicht mehr so. Alle modernen Gesellschaften sind umfassend verstädtert. Stadt und Land bezeichnen heute eher wechselnde Aggregatzustände von Individuen als prinzipielle Gegensätze. Längst ist, wer auf dem Land lebt, kein bisschen weniger urban als der Großstädter, der sich immer wieder nach der Ruhe im Umland sehnt.

Diese umfassende Urbanisierung der Gesellschaft spiegelt sich dialektisch in edler Landlust, in ökologischem Bewusstsein, in der Thematisierung von Heimat auf Stadttheaterbühnen oder kirchlichen Akademien, in Parteistiftungen und in Feuilletons. Nicht zuletzt zeigt sie sich in einer erzählenden Literatur, die das Ganze der Gesellschaft im Modell eines Dorfes wiederfindet, wie es Juli Zehs Erfolgsroman "Unterleuten" vorgemacht hat. Die massenhafte Ankunft von Heimatlosen vor zwei Jahren gehört zu den vielen modernen Erfahrungen, die die Kurve des Heimat-Begriffs wieder nach oben treiben. Er ist wie der Mond, der die Wanderer in der Nacht begleitet.

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