Sexueller Missbrauch an der Odenwaldschule:Hier war alles erlaubt

Missbrauch, Ignoranz, Vertuschung: Ein Opfer der Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule hat unter dem Pseudonym Jürgen Dehmers ein Buch geschrieben. "Wie laut soll ich denn noch schreien" gibt einen Einblick in den Alltag der Schule und offenbart monströse Zustände.

Tanjev Schultz

Dieses Buch ist wie ein schneller Basslauf in einem Rocksong, es wummert los und erfasst den Leser an Kopf und Körper. Jürgen Dehmers erzählt seine Lebens- und Leidensgeschichte, zugleich ist es die Geschichte eines kraftvollen Aufbegehrens. Dehmers - ein Pseudonym - hat in den achtziger Jahren die Odenwaldschule besucht, beinahe täglich war er den sexuellen Übergriffen seines Direktors Gerold Becker ausgesetzt. Jahrzehntelang ist die Geschichte der Gewalt im Odenwald vertuscht worden, erst im vergangenen Jahr wurde das ganze Ausmaß öffentlich bekannt. Ohne die Beharrlichkeit von Dehmers, der gemeinsam mit einem früheren Mitschüler schon Ende der neunziger Jahre Alarm geschlagen hatte, wären die Verbrechen vielleicht nie ans Licht gekommen.

Zeitung: Missbrauchsfaelle an Odenwaldschule auch in 90er Jahren

Ein Schild auf dem Gelände der Odenwaldschule macht auf spielende Kinder aufmerksam.

(Foto: ddp)

Dehmers schreibt zornig, mitunter trocken humorvoll oder sarkastisch, er schont nichts und niemanden. Der Verlag hat darauf verzichtet, in den Stil einzugreifen, das Buch entspricht Dehmers' lockerem Sprechduktus: Nachdem er es endlich geschafft hatte, sich gegen den Lehrer zu wehren, "war ich auf mich selbst gestellt. Das war nicht einfach, aber das war jetzt zu bewältigen. Es sollte nach diesem Vorfall viele Jahre dauern, bis ich mich wieder auf eine Bindung einlassen konnte. Okay, Jahrzehnte."

Als Jugendlicher hatte sich Dehmers in den Suff geflüchtet, sich später befreit von der Sucht und beschlossen, nicht länger zu schweigen. Er trieb exzessiv Sport, aber Körper und Seele sind bis heute verletzt. Mit dem Buch versucht Dehmers, "die Definitionsmacht über meine Erlebnisse zu behalten". Was ausgesprochen ist, könne in der Tiefe der Seele nicht mehr weiterwuchern. Und so lässt er alles raus: die Kinderpornos im Zimmer des Direktors, die Vaseline-Dose mit Kotspuren, die täglichen Weckattacken mit dem Griff an den Penis. Dehmers beschreibt die Ignoranz der Lehrer, Behörden und Medien.

Bericht über den Alltag an der Schule

Über die Übergriffe etlicher Lehrer ist in den vergangenen Monaten vieles zu lesen gewesen. Umso interessanter ist, was Dehmers noch über den Alltag in dem hessischen Internat berichtet, dieser vermeintlichen Vorzeigeschule der Reformpädagogik. Bei einer Begrüßungsrede soll der Schulleiter gesagt haben: "Hier ist alles erlaubt." Schüler konnten ihre Kameraden ungestraft drangsalieren. Mitschüler wurden in Spinde gesperrt, unter die Dusche gezerrt, zum Essen eines Fresspakets gezwungen - "mir wurde ziemlich schnell klar, dass ich in einer archaischen Urgesellschaft gelandet war, in der sich die Erwachsenen hauptsächlich mit sich selbst beschäftigten."

Wen kümmerte Gewalt auf dem Schulgelände?

Zugleich hielten die Lehrer die Fahne hoch für die Ideale einer "kindgerechten" Pädagogik. Und der Zeitgeist der Linken blies kräftig im Tal von Oberhambach: Über die Startbahn-West sei so leidenschaftlich diskutiert worden, "als ginge es darum, die zweite Französische Revolution zu beginnen." Man war für den Weltfrieden und gegen die Nachrüstung. Wen kümmerte die alltägliche Gewalt auf dem Schulgelände?

An der Odenwaldschule, die das Vertrauen liberaler Persönlichkeiten wie Richard von Weizsäcker und Marion Gräfin Dönhoff genoss, ist auch über die RAF diskutiert worden. Dehmers erzählt von einer Schulveranstaltung mit einem Rechtsanwalt eines verurteilten Terroristen. Bei der Diskussion sei der Täter zum Opfer stilisiert worden. "Man bestätigte sich gegenseitig, im Recht zu sein mit seinen Ansichten vom 'Schweinesystem'".

Dehmers, der an anderer Stelle schreibt, "Ideologie kotzt mich an", lässt sich nicht dazu hinreißen, das Versagen der Odenwaldschule als Sieg konservativer Pädagogik zu feiern. Doch allen Progressiven, für die die Odenwaldschule ein Vorbild war, führt das Buch nicht nur den sexuellen Missbrauch vor Augen, sondern ein ganzes Geflecht an politischen und pädagogischen Verirrungen.

Schülerzeitung trat für Pädophilie ein

Im Herbst 1987 gaben Schüler des Internats eine "anarchistische SchülerInnenzeitung" heraus. Auf dem Titel: Fotos von drei RAF-Terroristen ("10 Jahre Stammheimer Morde - Nichts wird vergessen!"). Dehmers schildert, wie das Blättchen freimütig für Pädophilie eintrat. Eine Kopie der Zeitung liegt der SZ vor - man glaubt es kaum, was da offen an der Schule kursieren konnte: Eine Lehrerin lobt in einem Leserbrief die pornographischen Bilder aus der vorhergehenden Ausgabe und schwärmt davon, wie auf einem der Fotos ein Mann "liebevoll sein Geschlecht betrachtet und an dem seines Partners lutscht". Auf den Beitrag über Pädophilie geht sie nicht ein. Dafür darf eine anonyme Autorin, die angeblich an einer anderen Schule unterrichtet hatte, auf fünf dicht beschriebenen Seiten in drastischer Sprache zur Pädophilie aufrufen. Angeblich würden ja auch Achtjährige das so wollen.

Wer das Buch von Jürgen Dehmers liest, fragt sich, warum dieses Internat nicht schon vor Jahrzehnten geschlossen worden ist. Und man fragt sich, ob die Odenwaldschule die Geschichte je bewältigen und ihre Opfer endlich angemessen entschädigen kann. Dehmers scheibt: "Dieses Programm hatten meine Eltern nicht gebucht."

JÜRGEN DEHMERS: Wie laut soll ich denn noch schreien? Die Odenwaldschule und der sexuelle Missbrauch. Rowohlt Verlag, Reinbek 2011. 319 S., 19,95 Euro.

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