Serie "Was ist deutsch?":Kultur ist kein Integrationskurs

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Deutschland 2016: Die Landschaften sind die alten, das Land aber ist neu. Und die Kultur? (Foto: dpa/afp/Reuters/Getty Images; Collage: SZ.de)

Lange nahm man die Geschichte von Zugewanderten nicht als "eigene" Kultur wahr. Dadurch wurde ein Teil deutscher Kultur ignoriert - und wertvolle Kritik blieb ungehört.

Gastbeitrag von Shermin Langhoff

"Kultur" ist in Deutschland ein sehr beliebtes Wort. Das Feuilleton, die "Kultur"-Seiten also, steht in der Zeitung auf Augenhöhe mit den anderen vier Gewalten der Republik: Politik, Wirtschaft, Sport und Bayern. Und tatsächlich scheint so ziemlich alles "Kultur" zu sein, was weder eindeutig Politik noch Wirtschaft noch Sport noch Bayern ist.

Kurzer pseudo-linguistischer Prolog einer Autodidaktin: Das Wort "Kultur" ist in deutschen Komposita beinahe so beliebt wie das Wort "Landschaft": "Bildungslandschaft" und "Vermittlungskultur", "Willkommenskultur" in der "Medienlandschaft", "Parteienlandschaft" und "Leitkultur", "Theaterlandschaft" und "Kulturbetrieb".

In all diesen Zusammensetzungen ist Kultur positiv konnotiert: Von einer "Terrorkultur", einer "Pogromkultur", einer "Vernichtungskultur" kann nicht die Rede sein: Zwar ist das Bilden solcher Wörter möglich, aber die Kultur, der grammatische "Kopf" des Kompositums, der die syntaktische Funktion bestimmt, sträubt sich dagegen, einen negativen "Kern" zuzulassen, der die Bedeutung bestimmt. Dieser Widerstand, den die Sprache aufwendet, um der Kultur ihren Wert zu geben, die Dialektik zwischen Kultur und Barbarei, umreißt einiges von dem, was für mich mit der Frage: "Was ist deutsch?" zu tun hat.

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"Es ist schön hier, aber woanders ist es bestimmt viel schöner."

Deutsch, das sind für mich (neben einer großen Leidenschaft für zusammengesetzte Wörter) in erster Linie Kulturen und Landschaften. Für deutsche Landschaften gilt, was Saša Stanišić in seinem Roman "Vor dem Fest" einem seiner uckermärkischen Protagonisten in den Mund legt: "Es ist schön hier, aber woanders ist es bestimmt viel schöner."

Für die Kulturen in Deutschland ist das etwas komplizierter zu formulieren. Während das Jahrhundert der Aufklärung von dem Gedanken: "Es ist schön hier, aber es könnte eigentlich so schön sein, wie es woanders ist" angetrieben war und versuchte, den Rückstand zum Weltgeist aufzuholen, während es noch für Hegel logisch war, dass Kultur immer durch das Fremde entsteht, setzte sich im Deutschland des 19. Jahrhunderts der Mainstream des Raunens vom "deutschen Wesen" durch. Die Folgen muss ich nicht erwähnen.

"Deutschlands ganze Tugend und Schönheit - wir sahen es jetzt - entfaltet sich erst im Kriege. Der Friede steht ihm nicht immer gut zu Gesicht - man konnte im Frieden zuweilen vergessen, wie schön es ist." Diese Sätze stammen von Thomas Mann, geschrieben vor genau 100 Jahren, als Versuch, seinen Schriftstellerkollegen aus Frankreich zu erklären, warum ausgerechnet die Kulturnation Deutschland in den imperialen Wahn des Ersten Weltkriegs verfallen kann.

In den letzten 25 Jahren sind die deutschen Landschaften die alten geblieben - das Land aber ist neu

Einen weiteren Weltkrieg später nahm Theodor W. Adorno diesen Gedanken in Umkehrung auf. Mit dem berühmt gewordenen Diktum, nach Auschwitz seien Gedichte barbarisch, brach er mit der bis heute weit verbreiteten Annahme, die "Kultur" sei eine vom Nationalsozialismus missbrauchte Unschuld gewesen, nicht ohne zu betonen, dass der Verzicht auf Kultur die Rückkehr zur Barbarei bedeuten würde.

Dies war ein unlösbarer Widerspruch, der aber die Kulturen in Ost- und Westdeutschland bis 1990 auf unterschiedliche Weise prägte: der Zweifel der deutschen Kulturschaffenden an der Möglichkeit einer deutschen Kultur nach Auschwitz, bei gleichzeitigem Aufbau einer weltweit einzigartigen kulturellen Infrastruktur. Diese schizophrene Gleichzeitigkeit machte etwas Unmögliches möglich.

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Nachdem Hitlerdeutschland die sich verbietende Verdrehung von Kopf und Kern ("Vernichtungskultur", "Terrorkultur" und "Kriegskultur") zur Leitkultur gemacht hatte, entstand nach dem Krieg aus der Kulturkritik eine Kritik-Kultur, die sich in einem Bewusstsein der Zuständigkeit für die gesellschaftlichen Verhältnisse äußerte, mit der Kritik im Kern und der Kultur im Kopf.

Die Entwicklung der Kritik-Kultur

Die Landschaften und die Kultur in Deutschland eint deshalb vor allem eines: Sie sind geprägt von der Vernichtung der Moralität durch den Faschismus. Wenn ich die Frage, was deutsch sei, positiv beantworten sollte, dann ist es die Entwicklung jener Kritik-Kultur zumindest in der Kunst als kritisch-politische Praxis. Sie hat eine Atmosphäre der Freiheit erkämpft und gleichzeitig die Kultur zu einem Raum politischer Auseinandersetzung gemacht. Kunst im Sinne dieser Kultur war desintegrativ, indem sie sich nicht vereinnahmen lassen wollte, sie schoss oft am Ziel vorbei, und das war gut so.

Doch das berechtigte deutsche Unbehagen an allem, was deutsch ist, blieb eine sehr deutsche Angelegenheit. Sechzig Jahre Geschichte staatlich "gesteuerter Migration" veränderten die gesellschaftliche Realität in der Deutschland genannten Landschaft stark. Aber die Geschichte der Zugewanderten konnte nicht als Teil der "eigenen" Kultur wahrgenommen werden, sondern immer als etwas Fremdes, nicht Dazugehörendes. Dadurch wurde lange Zeit ein Teil deutscher Kultur ignoriert, und wertvolle Kritik blieb ungehört.

Es ist der deutschen Lust an zusammengesetzten Begriffen geschuldet, dass ich bis heute Deutschtürkin bin. Man kann also denken: im Kern deutsch, im Kopf Türkin. Seltsam, wenn ich es mir aussuchen müsste, wäre ich es lieber andersherum. Am liebsten aber wäre mir, wenn es gar keine Rolle spielte. Die ersten Jahre meiner Kindheit verbrachte ich bei meinen Großeltern gegenüber Lesbos, der Insel der Dichterinnen, in einer Gegend, die wir seit 2015 immer mit den Leichen angeschwemmter Kinder verbinden werden.

Das Dorf liegt zu Füßen des Ida-Gebirges, von dem man sagt, dass seine Berge die Residenz der Götter während des Trojanischen Krieges waren. Als Beute der siegreichen Europäer war es in der Mythologie Kassandra, die, verschleppt nach Mykene, als Prophetin mit Migrationshintergrund die europäische Genealogie der Gewalt vorhersagte. Ich bin nicht türkisch und nicht deutsch, so wie ich keine Prophetin bin. Der Ausspruch meiner Großmutter: "Was du in deinem Kopf und in deinem Herzen hast, kann dir keiner nehmen" aber ist Kern meiner Identität: kein festgefügter Raum, sondern ein Archiv der Begegnungen und gefassten Erfahrungen.

In der deutschen Geschichte leben

Ich bin dann in Nürnberg aufgewachsen, der Stadt der Reichsparteitage und der Rassengesetze. Ich habe keine Nazi-Großeltern. Die Traumata und unausgesprochenen Geschichten meiner Familie sind andere, nicht vergleichbare. Und dennoch ist mein Leben, wie das aller politisch denkenden Deutschen nach 1945, geprägt von der Auseinandersetzung mit der Shoah. Denn in Deutschland zu leben, heißt auch immer, in deutscher Geschichte zu leben.

Wenn ich mich in irgendwas integriert fühle, dann in den daraus erwachsenen Kulturzusammenhang der Kritik-Kultur. Er hat mich von der Shoah an die Wurzeln der türkischen Tätergeschichte geführt: zur langen Geschichte des Verschweigens und Verleugnens des Völkermords an den Armeniern.

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Im letzten Jahr fand im Gorki-Theater in Berlin, an dem ich arbeite, ein Treffen internationaler Künstler statt, die sich in ihren Arbeiten mit jenem Völkermord von 1915 auseinandergesetzt haben. Im Fokus stand auch die deutsche Verantwortung daran. Mein vielleicht doch deutscher Kopf, geprägt von der kritischen Befragung des Eigenen, hat das kritische Bewusstsein zum gegebenenfalls türkischen Kern exportiert, und ich konnte erleben, wie dies hierher zurückgespiegelt wurde als Moment künstlerischer Intervention in politisches Schweigen.

In diesem Sinne bin ich gern eine Integrierte und werde lustvoll streiten gegen den Versuch, ein altes Deutschland, das sich im Faschismus selbst abgeschafft hat, mit anderem Gesicht wiederzubeleben.

Das Land ist neu

In den letzten 25 Jahren hat sich dieses Land extrem verändert. Die Landschaften sind die alten geblieben, das Land aber ist neu. Und die Kultur? Der Kritikmuskel ist müde geworden, Adorno einsortiert ins Regal. Vielleicht bedarf die deutsche Kultur nun des kritischen Potenzials derer, die nicht mit Adorno großgeworden sind, aber in der Kulturlandschaft, die von ihm geprägt wurde, fündig werden - wie ich es geworden bin.

Die deutsche Sprache braucht den Einfluss anderer Sprachen, um nicht tote Sprache zu werden, das deutsche Theater die Narrative von Menschen, die - oder deren Eltern - hierhergekommen sind, der deutsche Roman den Blick auf deutsche Landschaften aus Augen, die den jugoslawischen Bürgerkrieg gesehen haben. Aber nicht nur das: Es geht auch um eine Desintegration der Kunst, mit welchem Hintergrund auch immer, aus den neoliberalen Fallstricken, aus dem Common Sense des "There is No Alternative", der Alternativlosigkeit. Kunst muss sich aus der Wirklichkeit desintegrieren, um sie wieder sichtbar zu machen.

Kultur muss stören

Die "Kulturlandschaft" hierzulande sollte unbeirrt ihre fantastischen Mittel und Strukturen nutzen, um zu stören. Die Kulturgeschichte nach 1945 zeigt, dass das nicht kontraproduktiv oder zerstörerisch sein muss, sondern, im Gegenteil, Auseinandersetzung erst möglich macht. Politik als Praxis gesellschaftlicher Veränderung ist angewiesen auf die Kontrolle und Verunsicherung durch eine Kultur, die auf Geschichte ausgerichtet ist, um Zukunft denkbar zu machen. Die Kultur ist angewiesen darauf, dass sie sich nicht als Volkskultur, sondern als Bevölkerungskultur denkt.

Die Menschen, die in den letzten Jahrzehnten nach Deutschland gekommen sind, müssen nicht kulturell integriert werden, sie sind es bereits, weil sie zur Bevölkerung gehören. Es ist Aufgabe von uns Kulturinstitutionen, dem Plural von Kultur Räume zu geben. Aber Achtung: Kultur ist kein Integrationskurs oder wenn, dann für alle. Sie muss auf Desintegrationskurs bleiben: dekonstruieren, neu zusammensetzen. Vielleicht erfindet sich dann etwas neu. Ob das dann deutsch ist? Sicher, aber anders: Es ist schön hier, aber schöner wär', wenn's schöner wär.

Shermin Langhoff ist Intendantin des Maxim- Gorki-Theaters in Berlin.

Deutschland wird sich verändern, wenn Hunderttausende neu hinzukommen. Aber was ist das - deutsch? Darüber debattieren Deutsche aus Ost und West, Wissenschaft und Praxis in dieser Serie. Heute: der Soziologe Stephan Lessenich. (Foto: SZ-Grafik)
© SZ vom 13.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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