Selbstmordattentäter:Bis in den Abgrund

Held, Märtyrer und Terrorist in einem: Der Selbstmordattentäter

Wolfgang Sofsky

Sie wurden ausgesandt, um zu töten. Stets benutzten sie den geweihten Dolch, nicht den Bogen, die Armbrust und auch kein Gift. Die Nahwaffe entschied über ihr Schicksal. Denn ihre Opfer - Kalifen, Sultane, Generäle und Gouverneure - waren immerzu von Leibwächtern umstellt. Viele erlitten schon während der Tat das Martyrium. Gelang es einem Attentäter dennoch, sein Opfer niederzustrecken, verzichtete er auf die Flucht. Eine Mission zu überleben, galt als Schande. So endete jeder fromme Meuchelmord mit dem Tod des Mörders.

Selbstmordattentäter: Je mehr er töten wird, desto leichter fällt dem Attentäter das Selbstopfer. Vogel in den Ruinen des WTC.

Je mehr er töten wird, desto leichter fällt dem Attentäter das Selbstopfer. Vogel in den Ruinen des WTC.

Die ismaelitische Sekte der Assassinen führte Krieg gegen die seldschukischen Eliten und die Ideen des sunnitischen Islam. Von Ostpersien bis zur Mittelmeerküste verbreiteten sie Angst und Schrecken. Ihre Methode war der Terror, ihr Ziel der Umsturz. Ihre Ausgangsbasis lag im unwegsamen Gebirge, wo ihr Führer sein Domizil hatte. Um jeden Preis wahrten sie das Geheimnis der Verschwörung. Unerkannt bewegten sie sich in der großen Stadt bis zum Tatort. Die Todesangst überwanden sie durch religiöse Inbrunst, denn vom Trieb der Selbsterhaltung, dieser kreatürlichen Sorge des Leibes um sich selbst, wurden auch sie geplagt. Doch der religiöse Terrorkrieg forderte jedem das Äußerste ab: die Tötung des Feindes und das Opfer des eigenen Lebens.

Drei Sozialfiguren der Selbstüberwindung hat die Kulturgeschichte der Gewalt bislang hervorgebracht. Der Attentäter und der Märtyrer sind die radikalsten Widersacher der Macht, der Heros erlangt Unsterblichkeit im Kampf auf Leben und Tod. Alle genießen sie unter ihren Anhängern Ruhm und Bewunderung.

Der Attentäter zeigt, dass jeder Machthaber, und sei er doppelt und dreifach bewacht, verletzbar bleibt. Keine Macht ist vor der Entschlossenheit des Angreifers sicher. Jederzeit kann die Tötungsmacht des Despoten in die Ohnmacht des Getötetwerdens umschlagen. Was Menschen einander antun können, kann jeder jedem zufügen. Die ursprüngliche Gleichheit der Menschen liegt in der Verletzbarkeit und Tötungsmacht eines jeden. Dies nutzt der politische Mord, und darauf beruht auch der moderne Terrorkrieg, der sich nicht mit der Tötung einzelner Herrscher begnügt. Nicht in der Verwundbarkeit der technischen Zivilisation und der offenen Gesellschaft liegt der letzte Grund für die Anfälligkeit der Ordnung, sondern in der unhintergehbaren Verletzungsmacht jedes Einzelnen.

Auch der Märtyrer weist die Macht in ihre Schranken. Wer sich töten lässt, entzieht sich jeder Unterwerfung. Die Macht kann ihn unmöglich zwingen, am Leben zu bleiben. Noch unter der Folter weigert er sich, seine Überzeugung zu widerrufen oder seine Gefährten zu verraten. Er missachtet die tödliche Drohung und verweigert den Gehorsam. Jeder Befehl prallt an ihm ab. Der Märtyrer verkörpert die Tapferkeit reiner Duldung. Er bekämpft keine Feinde, er kämpft nur gegen sich selbst, gegen die Drangsal des Schmerzes, gegen die Qualen des Körpers. Aber indem er die Freiheit zur Selbstaufgabe nutzt, legt er die Unvollkommenheit jeder Macht bloß.

Vom Suizidanten unterscheidet sich der Märtyrer durch seine ungeheuerliche Passivität. Er wehrt sich nicht, legt auch nicht selbst Hand an sich. Er lässt es geschehen. Von den Opfern einer Schießerei oder eines Bombenangriffs unterscheidet er sich durch den bewussten Akt der Duldung. Die Opfer eines Massenmords oder einer Militärattacke als Märtyrer zu bezeichnen, ist nur der vergebliche Versuch, den Tod mit Sinn zu überhöhen.

Der tote Held hat sein Leben geopfert im Kampf für das Gemeinwesen, für die Bewegung, für das neue Leben nach der Revolte. Bis zum letzten Ansturm hat er den Feinden getrotzt und unzählige in den Tod geschickt. Dafür gebührt ihm ein unvergänglicher Lobpreis. Der Heros besiegt den Tod, indem er um sich schlägt und sein eigenes Ende missachtet. Er opfert sich für andere, aber er verbreitet auch den Schrecken des Berserkers. In ihm verkörpert sich der Todesmut in der Aktion. Mit brutaler, gewissenloser Unbarmherzigkeit vollbringt er den höchsten Akt der Moral, das Opfer seiner selbst. Mit der Gewissheit des Untergangs hält er stand, bis ihn die Übermacht zu Boden streckt. Doch im Augenblick des Todes entzündet sich der Blitz des ewigen Lebens.

Die jüngste Kriegsgeschichte hat diesen Figuren eine neue Variante hinzugefügt: den "Selbstmordattentäter". Mit dem Heros teilt er die Zerstörungswut und Todesverachtung, mit dem Märtyrer die Inbrunst des Glaubens und das blinde Gottvertrauen, mit dem Terroristen die Heimtücke und die Rebellion gegen die eigene Ohnmacht. Feige ist er mitnichten. In seiner Person paaren sich kalte Courage mit schonungsloser Grausamkeit, bodenloser Hass mit Selbstlosigkeit. Dass er keine hoch entwickelte Waffentechnik benötigt, ist offenkundig. Denn seine Hauptwaffe ist er selbst. Die Preisgabe seiner selbst verleiht eine einzigartige Destruktivkraft. Der Gegner pflegt sein Risiko mit der Gewinnchance zu verrechnen. Seine Tapferkeit reicht so weit wie die Hoffnung aufs Überleben.

Anders der Selbstmordkämpfer. Schon die malaiischen Amokkrieger oder die Berserker, die Leibgardisten der Wikingerhäuptlinge, konnten ganze Armeen in Panik versetzen. Mit dem Schwert warfen sie sich in die Reihen der Feinde und richteten ein blutiges Chaos an. Ihre Kampfweise kannte keine Vorsicht, keine Umsicht, kein taktisches Kalkül. Sie kannten nur die Rationalität des Ziels, nicht der Mittel. Alles was für den Sieg notwendig war, setzten sie ein, auch den sicheren Tod. Darin glichen sie den japanischen Kamikazepiloten und den Verteidigern Okinawas, die sich im letzten Sturmangriff auf die amerikanischen Maschinengewehre stürzten oder sich mit Sprengstoff am Gürtel unter die Panzer warfen. Indem man stirbt, macht man sich unbesiegbar.

Von solcher Kriegerethik, die alle Illusionen verachtet, sind heutige Selbstmordattentäter meilenweit entfernt. Sie kämpfen nicht, sie richten Massaker an. Sie steigern ihren Opfermut, indem sie möglichst viele mit sich reißen. Andere in großer Zahl zu töten, mindert die eigene Todesangst. Wer sein Leben mit Sicherheit verlieren wird, vermag sich selbst zu überwinden, indem er viele zu sich herabzieht.

Dieser Mechanismus ist eine Triebkraft des neuen Krieges, der, von vielen Bewohnern der nördlichen Metropolen unbemerkt, längst im Gange ist. Nicht Soldaten staatlicher Armeen sind seine Akteure und auch nicht die Waldgänger des Partisanenkriegs, sondern Banden, Marodeure, Kommandos und Attentäter. Sie bedienen sich der Mittel des Terrorismus, aber im Fadenkreuz haben sie nicht allein die Eliten im eigenen oder fremden Land, die Stützpunkte und Depots der Besatzungsmacht. Terroranschläge haben zivile Opfer immer in Kauf genommen, doch mittlerweile ist die zivile Gesellschaft selbst ins Visier genommen, ihre Lebensform, ihre Tempel, Monumente und Paläste. Der Selbstmordattentäter begibt sich zu den sozialen Treffpunkten und zündet die Bombe. Je mehr er töten wird, desto leichter fällt ihm das Selbstopfer.

Zwei Wege führen zum Tatort. Da ist der Halbwüchsige aus dem Elendsquartier, der in einem Trainingscamp monatelang präpariert wird. Militärischen Exerzitien wird er unterworfen, asketischen Übungen und Meditationen. Sein Gehirn wird leer gewaschen und mit den religiösen Parolen des Geheimordens wieder aufgefüllt. Mutproben und Paraden im kollektiven Takt gliedern ihn ein in die Gemeinschaft der Auserwählten. Kurz vor dem Einsatz lernt der Novize seinen Führungsoffizier kennen. Dessen Autorität verspricht Schutz und Erlösung. Er begleitet ihn bei den tagelangen Gebeten, fertigt seine Bombe und schickt ihn los. Die Haare abgeschoren, benommen vom monotonen Rhythmus der Gesänge steuert er, einem Schlafwandler gleich, dem Zielort zu. Unbekannte Helfer fahren ihn über die Grenze, die letzten Schritte geht er allein. Der Blick verengt sich, dumpf klingen die Geräusche wie hinter einer Schallmauer. Das Lächeln ewiger Glückseligkeit überzieht sein Gesicht. Im Augenblick der Explosion wird er im Paradies sein. Ein junger Attentäter, der vor einiger Zeit seinen Anschlag überlebte, weil nur die Zündkapsel explodiert war, glaubte sich schon im Himmel, als er in der Klinik zu sich kam. Er erwachte jedoch unsanft, als ihn die Agenten des Geheimdienstes direkt fragten, ob es in seinem Paradies auch Israelis gäbe.

Da ist ferner der Rekrut aus der Mittelklasse, der nach mehreren Monaten Trainingscamp irgendwo in der Welt als "sleeper" einem unauffälligen Alltagsleben nachgeht. Den Anfechtungen der Umwelt entgeht er durch regelmäßige Exerzitien im Kreis seiner Zellengenossen, die einander seit langem kennen. Nach Jahren hört er von der Prophezeiung. Es ist keine Anweisung und kein Befehl, es ist nur die Ankündigung eines Ereignisses, deren Eintreten sich der geheimnisvolle "Alte vom Berge" wünscht. Ein unbekannter Mittelsmann überbringt den Auftrag. Am Tag der Aktion fährt das Kommando zum Tatort. Alle sind sie hellwach und konzentriert, sie haben Mühe, ihre Panik zu vereisen. Auf jeden Zwischenfall müssen sie geistesgegenwärtig reagieren, im Moment des Überfalls droht die Anspannung in blinde Aktion umzuschlagen, überall lautes Gebrüll, Drohgebärden, die Geiseln müssen in Schach gehalten, das Flugzeug ins Ziel gelenkt werden. Vollständig im Sog der Situation folgen sie nur dem Zwang des Augenblicks - bis zum Aufprall.

Der Autor lehrt Soziologie an der Universität Göttingen. Zuletzt erschien von ihm ein "Traktat über die Gewalt" (Fischer Verlag).

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