Salzburger Festspiele:"Was verdanke ich Adolf Hitler? - Alles."

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Jörg Hartmann (Mitte) als Lehrer unter zukünftigen Nazis. (Foto: Arno Declair)

Thomas Ostermeier inszeniert Ödön von Horvaths "Jugend ohne Gott" pädagogisch allzu wertvoll.

Von Christine Dössel

Zu Beginn der Vorstellung im Salzburger Landestheater erhebt sich der Schauspieler Jörg Hartmann aus der fünften Reihe im Parkett und tritt auf die Bühne: ostentativ einer von uns, aus dem Publikum, nur nicht so festspielchic gekleidet. Er trägt eine schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt, total casual, und er spricht ganz alltäglich: "Hallo, guten Abend, könnte ich bitte ein bisschen mehr Licht haben?" Das, was er dann mit der sanftesten Bekennerstimme vorträgt, sind Gedanken zu der Frage "Was verdanke ich Adolf Hitler?" Mit der zusammenfassenden Antwort: "Alles." Das irritiert zunächst sehr, weil es so bruchlos von heute, aus unserer Mitte, aus dem Menschen Jörg Hartmann herauskommt. Von "unserem Führer" ist die Rede, und dass "jeder Volksgenosse dankbar sein" sollte. Wer spricht hier?

Nein, Hartmanns Ausführungen sind kein Neonazi-Bekenntnis, sondern entstammen dem Brief eines Horst R. aus Braunschweig, Juli 1935. Während Hartmann dessen Eloge ungemein ruhig und innig vorträgt, füllt sich hinter ihm die Bühne: Hitler-Jugendliche in kurzen Hosen, ein Mädchen im Dirndl, sie tragen eine Schulbank herein und helfen zu jazzig-bluesigen Klängen, Hartmann einzukleiden wie für ein Hochamt. Nur dass er keinen Priester zu spielen hat, sondern einen Lehrer aus den Dreißigerjahren im Nationalsozialismus: den Ich-Erzähler aus Ödön von Horváths Roman "Jugend ohne Gott", erschienen 1937 in einem niederländischen Exilverlag. Die Bühnenadaption des Stoffs in der Regie von Thomas Ostermeier ist die erste Neuinszenierung im Schauspielprogramm der Salzburger Festspiele - eine Koproduktion mit der Berliner Schaubühne, wo die Inszenierung im September herauskommt. Eine Enttäuschung, vom Premierenpublikum aber begeistert beklatscht.

Es ist das zweite Mal in kurzer Folge, dass der Schaubühnen-Chef Ostermeier, den das Erstarken der Rechtspopulisten in Europa umtreibt, sich diesbezüglich mit einem Text von Horváth auseinandersetzt. Nachdem er im November dessen Volksstück "Italienische Nacht" über den Kulturkampf von Demokraten und Faschisten vor 1933 inszenierte - und zwar explizit als Kritik am Versagen der Linken -, erzählt er in "Jugend ohne Gott" nun ganz brav und pädagogisch wertvoll an der epischen Textvorlage entlang. Keine Aktualisierungen diesmal. Das Werk bleibt, brandheiß und aufwühlend wie es ohnehin ist, in seiner Zeit belassen. Es ist eine "kalte Zeit", in der die Nazis schon an der Macht sind.

Zwar wird das von Horváth nicht konkret benannt, es fällt auch nie der Name Hitler (nur verklausuliert als "der Oberplebejer"), aber die Koordinaten der Diktatur und ihrer gesellschaftlichen Mechanismen in den Vorkriegsjahren sind klar. Horváth spricht parabelhaft vom "Zeitalter der Fische". Der Fisch als Chiffre für Gleichgültigkeit, Kälte, stumme Anpassung. In dieser Zeit hat es der Ich-Erzähler, der Lehrer, mit Schülern zu tun, die von der neuen Ideologie indoktriniert sind. Die als Soldaten fürs Vaterland sterben wollen und sich den "Negern" überlegen fühlen ("Afrikaner" heißt es nun in der eng am Roman bleibenden Theateradaption von Florian Borchmeyer). Im Zeltlager begeht einer sogar einen Mord aus eiskaltem Voyeurismus. Um zu sehen, wie das ist. Die Aufklärung dieser Tat ist ein eigener detektivischer Handlungsstrang.

Der Lehrer, ein Humanist, betrachtet diese moralisch verrohte (Hitler-)Jugend mit kühler Abscheu, immer auf Distanz. Er ist aber auch ein Opportunist, der um seine Stellung und seine Pension fürchtet, kein Held - so wie auch Horváth kein Held war und sich bis Mitte der Dreißigerjahre dem NS-Regime als Autor angedient hatte. In der Figur des Lehrers spiegelt sich Horváths eigener einstiger Kleinmut, seine Existenzangst. Daher dauert es lange, bis der Lehrer sich traut, für Wahrheit und Gerechtigkeit einzustehen. Als er dies im Gerichtsprozess schließlich tut - denn er hatte das Tagebuch des Jungen "Z" heimlich gelesen und war damit an den tragischen Vorfällen nicht unschuldig -, ist das ein Akt von menschlicher und moralischer Schönheit. Und zeitigt sofort Wirkung, weil auch die Zeugin Eva, seinem Vorbild folgend, die Wahrheit sagt, und ein paar Jugendliche, davon inspiriert, einen widerständigen Klub gründen. Als sei die Wahrheit ansteckend. Als zöge sie Kreise wie ein Stein im Wasser. Das ist das Erhebende an diesem bedrückenden Roman, der Gott im Wahrhaftigsein findet.

So leise die Ton- und Gangart an diesem textlastigen Abend ist, so überlaut dröhnt die Botschaft

In ihrem Vortrag "Endstation Sehnsucht" in der Festspielreihe "Schauspiel-Recherchen" hatte am Tag der Premiere die Publizistin Carolin Emcke die "dissidente Kraft" solcher Geschichten gerühmt. Das sei es, was "Jugend ohne Gott" so aktuell mache: "Dass wir nicht hinnehmen müssen, was gerade als regierungsfähig gilt. Dass wir nicht aushalten müssen, was gelogen und verleumdet wird. Dass wir nicht glauben müssen, was manipuliert und verzerrt wird." Dass wir etwas tun können.

Das Störende bei Ostermeier ist die dröge Zeigefingerhaftigkeit, mit der er, in bester Absicht, genau diese Botschaft zu vermitteln versucht. Statt eine eigene szenische Fantasie, einen eigenen Guss oder Kosmos für diese Geschichte zu entwickeln, statt also selber beim Erzählen ein wenig dissident zu sein, statt assoziativ abzuheben und sich Freiheiten und Wildheiten zu gestatten - wenn nicht dafür, wofür sonst nimmt man sich Romane statt Dramen vor? -, stattdessen also inszeniert er streng und linear am Geschehen entlang, bebildert dieses weitgehend nur, in lahmer, fader Choreografie. Das ist alles so statisch, didaktisch, nachgestellt realistisch, so ausgestellt bedeutungsvoll und traurig-tranig, dass man sich in einem Lehrstück wähnt. So leise die Ton- und Gangart an diesem textlastigen Abend ist, so überlaut ist die Botschaft: Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem dies kroch!

Auf Jan Pappelbaums Bühne sieht man im Hintergrund einen Wald aus kahlen Bäumen. Auf der Spielfläche davor schieben die Schauspieler im permanenten Szenenwechsel die Requisiten rein und raus: Tische, Stühle, Schulbänke, mal ein Bett, mal ein Zelt. Vorne rechts zwei Standmikrofone - für die "innere Stimme" des Lehrers und andere Selbstreflexionen. Geschieht etwas im Unterholz, etwa die vom Lehrer beobachtete Sexaffäre des Schülers "Z" mit der obdachlosen Eva, werden die Szenen per Video auf die Zeltplane oder auf Stoffdecken projiziert. Naziaufmärsche, Volksfeste, Rundfunkreden flirren in verzerrten Bild- und Tonfetzen vorüber. Neben Hartmann sind es fünf Schauspieler und zwei Schauspielerinnen, die emsig in rund 40 Rollen schlüpfen: schnell reagierende, sich neu kostümierende, teils überagierende, wenn nicht chargierende Gehilfen in einer formal zähen Bilderabfolgeregie. "Wir legen mehr Wert auf das Leistungsprinzip als auf das Darbietungsprinzip", sagen zwei "rucksacktragende Venusse", vulgo: BDM-Mädel, im Wald. Das gilt generell für das erstaunlich schwache Spiel. Selbst der eigentlich famos besetzte Jörg Hartmann ist nur ein grübelnder Leisetreter und unterspielt die Komplexität und Zerrissenheit seiner Figur mit monotonem Phlegma.

© SZ vom 30.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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