Ruhrtriennale:Die große Frage, was die Menschheit denn sei

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Universal und auch unvollständig: Hier wird's Ereignis. (Foto: Walter Mair/Ruhrtriennale 2018)

Christoph Marthaler entwirft mit der Musik von Charles Ives einen ebenso umfassenden wie fragmentarischen Zauberabend.

Von Egbert Tholl

Am Ende erklingt eine Frage, sie bleibt offen, verhallt im Raum. Sieben Mal fragt die Trompete mit einem Motiv aus wenigen Tönen, sieben Mal versuchen die Holzbläser, darauf eine Antwort zu finden, sieben Mal gibt es keine. Und unter all dem ruht ein stiller, harmonisch glänzender Streichersee wie der Klang eines nie endenden Schweigens. Charles Ives' kurzes Stück "The Unanswered Question" ist eine Ikone der Moderne. Es wirkt unmittelbar, um es zu verstehen, muss man keinerlei Ahnung von Tonalität und deren Auflösung haben. Denn das Stück ist tönende Philosophie, kündet von Menschsein und Demut, verweist darauf, dass es Dinge gibt, die größer sind als der Mensch.

Die sechs, sieben Minuten der "unbeantworteten Frage" sind die Kulmination dieses Abends, dessen vorangegangene zweieinhalb Stunden im Nachhinein wie eine lange, verästelte Ouvertüre wirken. Christoph Marthaler hat sich bei der Ruhrtriennale einen Traum erfüllt, der seit mehr als 20 Jahren in seinem Kopf herumspukt, nämlich aus Charles Ives' "Universe Symphony" einen großen Musiktheaterabend zu machen. In Bochum, in der Jahrhunderthalle, heißt dieser Abend dann "Universe, Incomplete" und ist genau das: universal und unvollständig, aber riesengroß und schlechterdings ein Zauberstück.

Nach der Premiere bedankt sich Nordrhein-Westfalens Kulturministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen, sichtlich gerührt, bei Marthaler und Stefanie Carp, der Intendantin der Ruhrtriennale. Es ist der Abend vor der Podiumsdiskussion über die Freiheit der Kunst (SZ vom 20. August), und die Ministerin weiß, dass es so ganzheitliche Aufführungen wie die von Marthaler oder auch die Eröffnungsproduktion von William Kentridge sind, die die Ruhrtriennale zu einem einzigartigen Festival machen. Ihr Dank an Carp ist auch ein Bekenntnis zu ihr und zur Kunst selbst, die aus eigener Kraft die Diskussionen im Vor- und Umfeld der Ruhrtriennale verstummen lassen kann.

Der amerikanische Komponist Charles Ives wollte mit der "Universe Symphony" eine umfassende Schöpfungs- und Menschheitsgeschichte aus Tönen schreiben. Er arbeitete 15 Jahre daran und vollendete das Werk nie; das versuchten andere nach ihm, keiner so richtig überzeugend, da half auch der überquellende Zettelkasten voller Skizzen und Materialien nicht viel, den Ives hinterließ. Marthaler und Titus Engel, der musikalische Leiter von "Universe, Incomplete", wählen nun einen ganz anderen Weg. Vollendete Passagen des Werks werden aufgeführt, wie sie sind: Sein Beginn ist auch der Beginn des Abends in der Jahrhunderthalle, in der sich die Tribüne für vielleicht tausend Zuschauer winzig ausnimmt. Überall im Raum und auf diversen Traversen sind Schlagzeuger verteilt, manche sieht man, die meisten nicht. Das Trommeln, Hämmern und Klöppeln verweist bei Ives auf die amorphe Ursuppe des Universums, in Bochum kommt nun noch die Erinnerung an den Klang der Schwerindustrie hinzu.

Nach dieser Eröffnung gibt es Ausschnitte vieler Werke, quer durch Ives' Œuvre. Die vierte Symphonie wird zitiert, das zweite Streichquartett erklingt, Märsche scheppern und auch jazzartige Gebrauchsmusiken, für die Ives ein Faible hatte. Die nordische Heroine Tora Augestad singt hinreißend einige Songs, mehrere Menschen spielen Klavier, etwa einen schrägen Dialog zwischen einem präparierten und einem unpräparierten Instrument, hundert Meter weit auseinander stehend. Marthaler und seine Raum- und Ausstattungserfinderin Anna Viebrock nutzen den riesigen Raum mit stupender Leichtigkeit. Obwohl etwa 150 Musiker von den Bochumer Symphonikern, dem Rhetoric Project, dem Schlagquartett Köln und verschiedenen Musikhochschulen hier mitwirken, gleichen deren Auftritte wie zauberisch hingetupften Erscheinungen.

Auf Schienen fährt ein Wellblechhaus wie ein Vorhang vorbei - und auf einmal steht eine Marschkapelle in altmodischen Sportanzügen der Ives-Zeit, also aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, auf einem Brückchen wie aus einem längst verlassenen Vergnügungspark. Zwei ältere Herrschaften sitzen allein zwischen roten Kinosesseln weit hinten in der Halle, Licht flackert vor ihnen und die Kinomusik der gerade unsichtbaren Symphoniker poltert aus einem Nebenraum. Ein langer Tisch mit vielen Stühlen steht im Hintergrund der Halle. Später werden die Darsteller ihn als Turngerät nutzen, machen jenes Tanztheater, das Marthaler einst in der "Schönen Müllerin" erfand. Ein Dinosaurier schwebt vorbei, und alle Darsteller müssen einen Checkpoint passieren.

Die Warterei davor ist ein echter Marthaler-Moment, wie es noch viele geben wird. Momente der allergrößten Verzweiflung, des Abstrampelns. Eingebettet in den Kosmos der Ives'schen Musik, die zu Lebzeiten des Komponisten in ihrer Ambivalenz zwischen Beharren und Aufbruch kaum verstanden wurde, mühen sich die Darsteller wie stumme Sisyphusse. Sie zittern, verzweifeln, manche versuchen einen Ausbruch aus Konventionen, andere suchen scheu Kontakt zu den anderen oder verknoten sich in großen Haufen ineinander. Es könnte herzzerreißend sein, gäbe es nicht genau gesetzte Dosen Humor, mal im Spiel, mal in ulkigen Texten von Gerhard Falkner und Martin Kippenberger, mal in einer babylonischen Sprachverwirrung. Jeder will ergründen, wer er ist, wer die anderen sind. Eine Antwort gibt es nicht, es bleibt die "Unanswered Question". Was für ein grandioser Bogen!

© SZ vom 21.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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