Rolling Stones:Man hat ja sonst nichts gelernt

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Am Tropf schönerer Zeiten: "A Bigger Bang", das neue Album der von Jagger, Richards und Co.

Karl Bruckmaier

So, nun ist er wieder umgefallen, der Sack Reis in China. Und es tat einen dumpfen Knall. "A Bigger Bang" sogar. Wann hat es gleich wieder das letzte Mal gescheppert? Weiß das jemand auswendig? Nicht googeln! Ja, der Herr mit den grauen Haaren dort drüben, auf der Harley? Richtig: 1997 war's. Die Rolling Stones überquerten die "Bridges to Babylon". Auch schon wieder acht Jahre her. Und Songs von diesem Album, wie "Saint Of Me" oder "Anybody Seen My Baby", werden inzwischen bei Auftritten der Stones zu Recht als mittelgute Oldies wahrgenommen. Womit wir bei den Songs wären und dem Grundproblem einer jeden neuen Platte der Rolling Stones seit "Some Girls" von 1978: Jedes Mal aufs Neue bekommen wir ein Dutzend mittelguter Songs vorgesetzt, die irgendwie ältlich wirken, aber auch nicht weiter stören. Die wohlwollende Kritik murmelt etwas von "zu den Wurzeln zurück gefunden", die weniger gütigen raunzen "ewig das Gleiche", und dann ist die Platte auch schon wieder vergessen.

Vier alte Herren, die noch immer richtig rocken: die Rolling Stones (Foto: Foto: AFP)

Mit "Some Girls" nahmen Jagger und Richards ein letztes Mal eine popmusikalische Herausforderung ernst, vielleicht verstanden sie auch ein letztes Mal, dass sie überhaupt herausgefordert wurden: Punk und Disco wurden frontal angegangen und nach Alphamännchen-Art weggeschubst, zwischen "Miss You" und "Shattered" zerrieben, zertrampelt, zermalmt, Problem erkannt, Problem gebannt, und Ron Wood durfte gelegentlich bei Punkkonzerten für eine Zugabe mit auf die Bühne, während Mick und Bianca problemlos ins Studio 54 gelassen wurden.

So macht das halt nun mal die zweifelsfrei größte Rock'n'Roll-Urgewalt-King-Kong-Monster-Band von ganze Welt: Beatles weg, Dylan ziemlich weg, Led Zeppelin kaum mehr da, Eagles hahaha - und man selbst brennt mit der Frau des kanadischen Premierministers durch: Rawwwk and Rooooull!

In den USA wurde anschließend "Tattoo You" von 1981 zum meistverkauften Stones-Album überhaupt, und die Tournee-Einkünfte sprengten jeden bekannten Rahmen: Da versteht man doch, wenn einen Mick Jagger beim Interview wie einen Geisteskranken mustert, bloß weil man wissen will, warum sie eigentlich keine so richtig gute Musik mehr machen, jetzt, wo sie doch alle stinkereich sind und es sich leisten könnten und überhaupt. Qualität hält Jagger für eine Geschmacksfrage. Und persönlicher Geschmack hat für Mick Jagger nichts mehr - und interessanterweise für Keith Richards noch weniger - mit den Veröffentlichungen der Rolling Stones zu tun.

Diese dienen seit den frühen achtziger Jahren dazu, einem relativ anonym bleibenden Segment konservativer Rock-Kundschaft, das keinesfalls etwas anderes haben möchte als das, was es bereits kennt, eine Art jeweils neu inszenierten, kleinsten gemeinsamen Stones-Nenner zu bieten. Abweichungen vom Reinheitsgebot werden vom CD-kaufenden Publikum nicht goutiert und von der Band auch nicht gewagt. Mick Jagger darf gelegentlich etwas Moderne inszenieren, indem er neue Produzenten hinzuzieht oder einen Remix bestellt. Keith Richards darf mal ein wenig mehr, mal etwas weniger vor sich hinkrähen. Der Überraschungseffekt ist etwa ähnlich wie beim sprichwörtlich gewordenen Paar Socken zu Weihnachten: Ist es weiß, ist es rot, ist es schwarz? Ui, es ist weiß-rot-schwarz gestreift. Mit einer Zunge drauf.

Brauchen sie unser Mitleid?

Na und, mag man als Stones-Fan - und ich bin weißgott selber einer - einwenden: Wenn's schee macht? Aber es macht nicht schön und es ist nicht schön. Wenn nämlich Musik glücklich machen soll, dann muss sie ein Risiko eingehen. Dann muss sie mich ansprechen, wie ein junger Mann ein Mädchen erst ansprechen muss, um ihr seine Liebe zu gestehen. Oder das Mädchen den Jungen. Egal. Es muss diesen Akt persönlicher Kommunikation geben zwischen Sender und Empfänger. Aber nicht jeder reagiert gleich auf die unterschiedlichen Formen der Kontaktaufnahme zwischen Liebeserklärung und Anmache. Ablehnung scheint möglich. Das Ziel ist klar, der Weg dorthin jedoch ...

Wer also niemanden Speziellen will, sondern einen jeden, wählt den Mittelweg: Tatsächlich Emotionales wird oben und unten gekappt, Kontroverses ausgespart, Subversives dem Bedürfnis nach Einfachheit geopfert, ästhetisch Verstörendes erst gar nicht in Erwägung gezogen, Politisches so selten eingesetzt, dass dann ein vereinzeltes Bush-Bashing wie "Sweet Neo Con" ausreicht, um die Public-Relations-Maschine im Leerlauf sauber aufheulen zu lassen: Yeah yeah yeah.

Und so zieht sich dann das Lautstärke gewordene Mittelmaß ein weiteres und in seiner Gesamtheit quälendes Mal über eine gute Stunde hin, Fluch des CD-Zeitalters: Was drauf passt, muss drauf passen. Das meiste erinnert plusminus ein Riff an entweder "Start Me Up" - uptempo - oder an "Fool To Cry" - Ballade. Und, nein, man würde sich gewiss nicht ärgern, die neuen Songs zufällig mal im Radio zu hören. "It Won't Take Long" ist ein angenehm abgehangener Rocksong, "Look What The Cat Dragged In" würde man vielleicht originell nennen, wäre es auf dem Debüt einer handelsüblichen Youngster-Band mit drauf.

Andererseits sind die gelegentlichen Blues-Referenzen samt Jagger'schen Gesangsmanierismen und Slide-Gitarre schlicht unerträglich, weil sie in ihrem berechnenden Rekurs auf die eigenen Anfänge indirekt leugnen, wie souverän und gleichzeitig frech die Stones einst die Musik alter, schwarzer Männer in etwas Junges, Frisches, Internationales haben mutieren lassen. Und ein 62-Jähriger, der nur Frauen kennt, die ihn entweder betrügen oder von ihm betrogen werden wollen: Braucht der unser Mitleid oder will er uns nur verarschen?

"A Bigger Bang"? Heraus kommt am kommenden Montag eben kein Knaller, sondern eigentlich Rolling-Stones-ähnliche Musik für Menschen, die eine bestimmte Erinnerung an eine andere und großartigere Musik suchen, die in ihrem Leben zu fehlen scheint. Und das hat mit den Songs zu tun. Nicht mit den mittelguten Oldies, nicht mit den formelhaften Selbstzitaten. Sondern mit einer unerhörten Reihung stilprägender, welteinreißender, herzzerfetzender Lieder, die Jagger und Richards einst nicht im Achtjahrestakt, sondern im Achtwochentakt herausgehauen haben. Und die sie bis heute mit dem nimmermüden Arbeitsethos eines Aufsteigers jahrein, jahraus auf großen und größten Bühnen reproduzieren - Rolling Stones und Sisyphos, da mag es ja auch eine Gemeinsamkeit geben. Und man hat ja sonst nichts gelernt.

Aber dieser etwas dandyhaft verbrämte Arbeitscharakter ist nur die eine Seite. Die schönere, die glänzendere, die sich unserer oft zu nüchternen Betrachtung gern entziehende ist jene, dass die Songs aus den Jahren 1963 bis 1973 soviel Energie gespeichert haben, dass die Stones an ihnen hängen können wie an einem Tropf. Dass diese Songs mit jedem Hören, jedem Spielen etwas von dieser ungeheueren Kraft abgeben, dem Musiker wie dem Zuhörer. Diese Songs leben. Und sie spenden Leben. Bei jedem Stones-Konzert. Auch heute noch. Vielleicht sogar mehr denn je. Allein die Songs. Denn diese waren keine Imitate, Selbstzitate, Derivate, sie waren und sind keine mittelguten Oldies. Sie waren und sind die wahrhaft großen Knaller.

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