Provenienzforschung:Das Kunstraub-Start-up

Benedicte Savoy

Bénédicte Savoy, 45, lehrt Kunstgeschichte an der TU Berlin und am Collège de France. 2016 erhielt sie den Leibniz-Preis. Derzeit beschäftigt sie sich mit der Verlagerung von Kulturgütern in Kriegs- und Friedenszeiten.

(Foto: Markus Wächter)

Die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy erkundet in einem Forschungsprojekt die "Kulturgeschichte der Zirkulation von Kunst in politisch angespannten Zeiten".

Von Jörg Häntzschel

So naiv wie früher geht niemand mehr ins Museum. Stehen wir vor einem Kunstwerk, erleben wir nicht mehr nur seine berühmte Aura. Immer lauter stellt sich auch die Frage nach dem Weg, den das Werk bis in die Ausstellung zurückgelegt hat, nach Gewalt und Unrecht, von denen dieser oftmals gezeichnet ist. Noch immer geben die Museen wenig bis nichts über die Herkunft preis, doch seit den Debatten der letzten zwei Jahrzehnte, die mit dem Fall Gurlitt noch einmal lauter geworden sind, fällt es schwer, diese Fragen auszublenden.

Lange konzentrierte sich die Debatte in Deutschland auf die NS-Raubkunst. Seit kurzem aber wird auch über den Raub von Kunstwerken und anderen Artefakten aus deutschen Kolonien diskutiert. Das ist auch der Verdienst der aus Paris stammenden, an der TU Berlin lehrenden Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy. Mit einem im Juli erschienenen Interview in der SZ, in dem sie erklärte, warum sie aus dem Expertenbeirat des Humboldt-Forums austrat und scharfe Kritik an dem Renommierprojekt übte, trat sie eine überfällige Debatte über Deutschlands mangelnde Aufarbeitung seiner Kolonialvergangenheit los.

Am Mittwoch stellte Savoy in Berlin nun ein groß angelegtes Forschungsprojekt vor, im Rahmen dessen sie in den nächsten drei Jahren mit einem Team von 20 Wissenschaftlern die Auseinandersetzung mit dem Kunstraub historisch erweitern und konzeptuell neu aufrollen will. Beteiligt sind daran auch weitere Institutionen, darunter das Collège de France, wo Savoy eine zweite Professur innehat, das Deutsche Archäologische Institut, das Pariser Institut National d'Art und die University of Technology in Sidney. "Translocations", so der Titel des Projekts, soll die "Kulturgeschichte der Zirkulation von Kunst in politisch angespannten Zeiten" erforschen, wie Savoy bewusst vorsichtig formuliert, und das von der Antike bis heute und nicht nur in Europa, sondern weltweit.

Savoy, geboren 1972, lebt seit 25 Jahren in Berlin und kam über ihre Promotion zu Napoleons Kunstraub in Deutschland auf das Thema. 2016 wurde sie für ihre Arbeit mit dem Leibniz-Preis ausgezeichnet, dem höchstdotierten deutschen Wissenschaftspreis. Mit dem Preisgeld von 2,5 Millionen Euro finanziert sie nun das Projekt.

Statt mit der kriminologischen Klärung von Einzelfällen durch Provenienzforschung, die den öffentlichen Diskurs der letzten Jahre dominierte, wollen sich Savoy und ihr Team mit dem Kunstraub als kulturhistorischem und politischem Phänomen beschäftigen. Für diesen neuen Ansatz brauchte sie einen neuen Begriff. Der aus der Naturwissenschaft entliehene "Translokation" drückt nach Savoys Definition die Veränderung aus, die ein Kunstwerk durch einen Ortswechsel erfährt. Es nimmt andere Bedeutung an, wird politisch instrumentalisiert, verändert Status und Wert: lauter Phänomene, die "Kunstraub" oder "Beutekunst" nicht ausdrücken. "Diese Begriffe enthalten immer schon einen Claim und weisen den Beteiligten die Rollen von Opfer und Täter zu. So erschwert man das Denken darüber."

Es geht dabei um allgemeine Fragen: Wem gehört ein Kunstwerk - allen, niemandem, Einzelnen, der "Menschheit"? Was passiert, wenn Kunstwerke nach einer Phase des freien Zirkulierens eines Tages in einem Museum enden und zu "Kulturbesitz" werden? Und was bedeutete es für ein Volk, wenn ihm seine Kunst und seine Bibliotheken weggenommen wurden?

Daneben werden sich die Forscher mit Einzelprojekten befassen: Ein Wissenschaftler aus Äthiopien wird untersuchen, wie die königliche äthiopische Bibliothek durch den Krieg mit den Briten in alle Welt zerstreut wurde. Eine Kunsthistorikerin aus Korea will darstellen, wie aus China stammende Kunst in Korea in einen nationalen koreanischen Kanon eingebaut wird. Ein anderer, woher der Begriff des nationalen "Erbes" in Frankreich stammt und welchen Zeitraum er einschließt. Savoy selbst will "eine Geschichte der Abwesenheit von Kunstwerken" schreiben.

Daneben wollen die Forscher Tagungen und Workshops veranstalten, einen digitalen Atlas der Kunst-Translokationen erarbeiten, Schlüsseltexte zum Thema seit Ciceros "Reden gegen Verres" herausgeben und ein Archiv mit Kunstraubdarstellungen in Kunst, Fotografie und Film aufbauen. Jackie Chans "Armour of God - Chinese Zodiac" ist auch dabei.

Dass diese Fragen nicht längst gestellt wurden, hat mehrere Gründe, so Savoy: die bis vor kurzem verbreite Abschottung der Disziplinen; die auf Europa beschränkte Perspektive; und vor allem die Tatsache, dass Kunstraub als kulturelles Phänomen erst seit Kurzem aus dem Schatten der Geschichte von Kriegen und Eroberungen tritt, in deren Zuge er stattfand. Ihre eigene akademische Karriere seit der Napoleon-Arbeit verlief entlang dieser Entwicklung. Schon deshalb will sie ihre Studenten so stark wie möglich einbinden: "Diese Themen beschäftigen eher die jüngere Generation. Wir können an ihren Fragen sehen, wohin sich der Diskurs entwickelt. Wir sind wie ein Startup."

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