Portrait über Charlotte Gainsbourg:Wie hingehaucht

Charlotte Gainsbourg ist das Kind der Schauspielerin Jane Birkin und des Chansonniers Serge Gainsbourg. Aber vor allem ist Charlotte Gainsbourg - so viel mehr.

Marie Pohl

Ein deutscher Hotelier erzählt ein merkwürdiges Gerücht. Er hat es von einem Arbeitskollegen aus Paris gehört. Angeblich kommt die Schauspielerin Charlotte Gainsbourg jedes Jahr am Todestag ihres Vaters ins Hotel Raphael um die Ecke des Arc de Triomphe, mietet das Zimmer, in dem ihr Vater sich umgebracht hat und verbringt die Nacht dort. Manche Gäste wollen gehört haben, wie sie zu ihm spricht, andere wie sie um ihn weint, oder für ihn singt.

Charlotte Gainsbourg

Das trotzig vorgeschobene Kinn und ein Blick, scheu wie der einer Katze: Charlotte Gainsbourg sieht mit 35 Jahren noch aus wie ein Mädchen. Natürlich kokettiert sie auch damit.

(Foto: Foto: Warner)

Ganz Frankreich weiß, dass das Enfant terrible Serge Gainsbourg, der legendäre Chansonnier, nicht im Hotel, sondern im Badezimmer seiner Wohnung an Herzversagen starb. Aber in jedem Gerücht steckt immer eine kleine Wahrheit. Nur ist es in diesem Fall nicht so leicht, sie herauszufinden. Die Betroffene, so ihr Management, spricht nicht gerne über ihre Eltern.

Charlotte Gainsbourg sitzt im Münchener Büro von Warner Music. Ende August erscheint ihr erstes Album 5:55. Die Journalisten betreten im 20-Minuten-Takt den Raum. Immer wieder neue, fremde Hände, die sie schütteln, neue, fremde Gesichter, die sie anlächeln muss. Aber seit 20 Jahren immer wieder die eine selbe Frage: Wie ist es, das einzige Kind von Sänger und Komponist Serge Gainsbourg und Schauspielerin Jane Birkin zu sein? Dem Starpaar der siebziger Jahre, das mit der Stöhnhymne "Je t'aime moi non plus" die Welt eroberte und mit seinem exaltierten Nachtleben die Boulevardpresse beglückte. Das Grab ihres Vaters ist heute ein Wallfahrtsort. Nach ihrer Mutter, die noch lebt, ist eine Handtasche benannt, die 13000 Dollar teure Birkin Bag von Hermès.

Vielleicht hätte Charlotte Gainsbourg es leichter gehabt, wenn sie Ärztin oder Hotelfachfrau, wenn sie alles andere geworden wäre, nur nicht das, was ihre Eltern waren: Schauspielerin und Sänger. Aber sie sagt, sie hat sich ihren Beruf nicht ausgesucht, sondern ist da "so reingerutscht". Auch Charlottes Großmutter, Judy Campbell, ist Schauspielerin, und ihr Onkel, Andrew Birkin, ist Regisseur und Drehbuchautor. Mit 13 Jahren dreht Charlotte ihren ersten Film, spielt in "Paroles et musique" ("Duett zu dritt") die Tochter von Cathérine Deneuve und erhält ein Jahr später für die Hauptrolle in "L'effrontée" ("Das freche Mädchen") einen César, den französischen Oscar. Sie wird als wildes Ausreißer-Mädchen zum Kinderstar. In "Petite voleuse" kommt die minderjährige kleine Diebin aus dem Dorf in das große Paris, liebt einen verheirateten Mann, beklaut ihre Hausherren, wird in die Besserungsanstalt geworfen, bricht aus und steht am Ende allein und schwanger vor einer ungewissen Zukunft.

Wie hingehaucht

"In Wirklichkeit", erzählt Charlotte Gainsbourg - und man muss das Fenster schließen, weil sonst der Verkehr ihre leise Stimme überfährt - "in Wirklichkeit war ich viel schüchterner als diese Figuren, viel verschlossener, stiller. Ich war nicht wild, und auch nicht frech."

Eine Schauspielerin muss das Gefühl ihrer Figuren nicht haben, sie muss es auslösen. Und dafür braucht Charlotte gar nicht viel spielen. Ihr geheimnisvolles Gesicht verleiht jeder Rolle eine Einsamkeit und einen Zauber. Und das Publikum liebt sie dafür.

Charlotte Gainsbourg dreht einen Film nach dem anderen, nicht nur in ihrer Heimat Frankreich, auch in Italien, England und in Amerika. Sie arbeitet viel mit ihrer Familie, spielt bei ihrem Onkel Andrew Birkin im Inzest-Drama "Der Zementgarten" und unter der Regie von Jacques Doillon, dem späteren Mann ihrer Mutter. Mit Yvan Attal, ihrem Ehemann, macht sie den Film "Ma femme est une actrice", der bei uns "Meine Frau, die Schauspielerin" hieß. Heute ist Charlotte 35 Jahre alt, Mutter zweier Kinder, sie lebt in Paris, wo sie aufgewachsen ist, und hat in mehr als 30 Filmen mitgespielt. Dabei hat sie sich nie für kommerzielle Produktionen verkauft, sondern ausschließlich in anspruchvollen Arthouse-Filmen mitgewirkt.

"Bei meinen ersten Interviews war ich wie versteinert. Ich saß vor laufenden Fernsehkameras und brachte kein Wort raus. Jetzt habe ich mich daran gewöhnt, aber ich mag es trotzdem nicht." Und ihr Blick sucht die nächste Frage, wie eine scheue Katze.

Charlotte Gainsbourg bereut, dass sie nie auf eine Schauspielschule gegangen ist. "Ich kann Szenen nicht analysieren, weiß nicht, wo die Höhepunkte liegen. Manchmal denke ich, ich bin gar keine richtige Schauspielerin, ich spiele alles nur nach Instinkt und Gefühl."

Zum Glück! Charlotte hat sich ihren natürlichen Charme bewahrt. Sie wirkt noch immer wie ein kleines Mädchen, der dünne Körper, das trotzige, vorgeschobene Kinn, die makellose Haut, die fremdelnde Haltung.

"Ich habe gelernt, zu meiner Unsicherheit zu stehen." Ihre schüchtern kindliche Art ist ihr Markenzeichen geworden, und womöglich kokettiert sie damit.Man könnte denken, diese Unsicherheit war eine Rebellion gegen die extrovertierten, lauten Eltern. Aber Charlotte Gainsbourg schüttelt den Kopf, es ist ihr Wesen. Sie ist mit ihrer älteren Schwester Kate aufgewachsen, der Tochter von Jane Birkin und ihrem ersten Mann John Barry. "Kate redet wie ein Wasserfall und hatte immer tausend Freunde. Ich war ein Albtraum dagegen, habe kaum gesprochen und war voller Minderwertigkeitskomplexe."

Wie hingehaucht

Sie sagt, es habe sie verunsichert, das Kind zweier so eindrucksvoller Menschen zu sein. Sie ist nicht mit den musikalischen Talenten ihres Vaters gesegnet. Und sie hat besonders unter der Schönheit ihrer Mutter sehr gelitten. "Ich kam mir neben ihr vor wie ein hässliches Entlein", flüstert Charlotte, die vor kurzem von Starfotograf Mario Testino porträtiert wurde.

Aber gerade diese ikonisierten Eltern waren selber voller Unsicherheiten und Komplexe. Die Engländerin Jane Birkin wurde mit ihrer Nacktszene in Antonionis Film "Blow Up" berühmt und galt weltweit als Sexsymbol. In einem Interview mit der SZ erzählte sie vor drei Jahren, dass sie als Mädchen unter ihren breiten Hüften, dem flachen Hintern und kleinen Busen gelitten habe und dafür im Internat gehänselt wurde. Als sie Serge Gainsbourg kennenlernte, hatte der sich gerade von Brigitte Bardot getrennt. "Dann kam ich, mein Körper: halb Frau, halb Junge. Serge behauptete, er fürchte sich vor Busen! Er brachte mich in ein Museum und zeigte mir Gemälde von Cranach. Der hatte Frauen bereits im 16.Jahrhundert mit wenig Busen und breiten Hüften gemalt. ,Da', sagte Serge, ,wunderschön, das bist du!"'

Und Serge? Eigentlich wollte er Maler werden. Doch die ständige Unzufriedenheit mit seinen Werken stand diesem Wunsch so sehr im Weg, dass er alle seine Bilder und Skizzen verbrannte und beschloss, sein Geld nur noch mit Musik zu verdienen. Und es ist kein Geheimnis, dass er sich selbst schrecklich hässlich fand. "Mit so einem Gesicht, guter Gott, das Einzige, was noch fehlt, sind Bommel an meinen Ohren...", singt Serge in einem seiner Lieder.

Ein belgisches Model, das zwischen Bardot und Birkin eine kurze Affäre mit Gainsbourg hatte, erzählt: "Er war voller Minderwertigkeitskomplexe! Wenn er einen Fernsehauftritt hatte, rasierte er sich tagelang nicht und rauchte extra viele Zigaretten, um besonders verrucht zu wirken. Privat war er ein scheuer Mann, ein Komponist, ein Poet."

In der Öffentlichkeit provoziert Serge, wo er nur kann. Er hat keine Angst vor der Presse, er fordert sie heraus. In einer Talkshow sagt Serge Gainsbourg zu der Sängerin Whitney Houston: "I would like to fuck you". In einer anderen verbrennt er einen 500-Franc-Schein aus Protest gegen die Steuerreform. Mit seinem Album "Rock around the bunker" verarscht er die Nazis. In Jamaika singt Rita Marley für ihn erotische Texte, was Bob Marley irritiert. Dieses Reggae-Album "Aux Armes Et Caetera" ("Zu den Waffen etc.") bringt vor allem Politiker und Generäle in Frankreich in Rage: Als Gainsbourg auf einem Konzert die heilige Marseillaise als Reggae-Version spielt, buht eine Fallschirmjägertruppe im Publikum so hartnäckig, dass die Band verstört die Bühne verlässt. Gainsbourg singt die Nationalhymne daraufhin a cappella und zeigt dem Publikum den Mittelfinger. Die Liste seiner Eskapaden ist endlos und lässt Eminem wie einen Streber aussehen.

Wie hingehaucht

Serge Gainsbourg macht sogar vor seiner eigenen Tochter nicht halt. 1986 nimmt er mit Charlotte das Skandallied "Lemon Incest" auf. Charlotte ist 15 Jahre alt, als sie sich mit dem halbnackten Vater im Musikvideo im Bett wälzt, und er von der Liebe singt, die sie niemals miteinander teilen können.

"Es ist ein Liebeslied. Mein Vater wollte mir damit keine Falle stellen, mich nicht entblößen. Und für mich war es normal, ich hatte immer schon zusammen mit ihm gesungen, er war ja Musiker. Aber es hat die Leute schockiert, weil ich so jung war", sagt Charlotte Gainsbourg und fügt hinzu: "Heute würde niemand mehr so ein Lied schreiben. Dazu ist unsere Zeit viel zu konservativ. Es ist eine Farce - alle tun so offen, so cool, dabei haben wir viel weniger Freiheiten, und die Gesellschaft wird immer verklemmter."

Als ihr Vater starb, war Charlotte 20Jahre alt und wollte eigentlich nie wieder singen. Sie hörte auch seine Lieder nicht, weil der Schmerz, ihn verloren zu haben, so groß war. Vorsichtig, schüchtern wie sie, wagt man die Frage nach jenem Gerücht. Sie lächelt, ja, es ist ein seltsames Gerücht, noch seltsamer, weil es stimmt, dass sie den Todestag meist alleine verbringt. "Ich gehe an seinem Todestag nicht ans Telefon. Jahrelang habe ich mich in seiner Wohnung eingeschlossen und saß dort im Dunkeln. Dieses Jahr war es zum ersten Mal anders: Ich habe meinen kleinen Sohn an die Hand genommen, bin mit ihm spazieren gegangen und es wurde ein ganz normaler Tag - in gewisser Weise." Und sie hat sich in diesem Jahr den Wunsch erfüllt, endlich ein Album rauszubringen. Sie träumte schon lange davon. Sie wusste nur nicht wie.

"Ich fühlte mich gelähmt, ich wollte singen, aber ich kann weder Musik komponieren noch Texte schreiben." Dann traf sie auf einem Radiohead-Konzert die Musiker von Air, Nicolas Godin und JB Dunkel. "Sie sagten: Was für ein Zufall, wir wollten dich gerade anrufen und fragen, ob du nicht mit uns was aufnehmen willst."

Ihre sphärischen Melodien passten wunderbar zu Charlottes gehauchter Stimme. Es gab nur noch ein Problem: die Texte. Air interessierte sich hauptsächlich für die Musik, und so war Charlotte Gainsbourg auf sich allein gestellt.

"Als Schauspielerin muss ich mir nie darüber Gedanken machen, was ich sagen will." Das Album sollte eine Geschichte haben. Aber was wollte sie erzählen? Sie überlegte hin und her, bis sie sich für die Schlaflosigkeit entschied. "Das erlebe ich oft, diesen Zustand, nicht einschlafen zu können, die ganze Nacht wach zu liegen." Jarvis Cocker, der Frontmann von Pulp, half ihr, die Texte zu schreiben. Der Titel "5:55" meint die Uhrzeit, den zwielichtigen Morgen. Das Album erzählt von einer Reise durch eine schlaflose Nacht.

In ihrem neuen Film "Science of Sleep" ("Anleitung zum Träumen") von Michel Gondry weiß man auch nicht, ob man wacht oder träumt. "Das ist Zufall. Das Album ist eher melancholisch und ruhig. Der Film hat, wie alles von Michel Gondry, seine sehr eigene schräge Phantasie..."

Hinter der Glastür winkt der Mann von Warner Music, neben ihm wartet der nächste Reporter. Fünf Minuten überzogen! Schichtwechsel. Man muss dem nächsten Reporter weichen. Das nächste Diktiergerät läuft. Gleich kommt die Elternfrage für die nächste Schlagzeile.

Im Gang schmücken goldene Schallplatten von Madonna die Wände. Charlotte Gainsbourg interessieren hohe Verkaufszahlen wahrscheinlich nicht so sehr. Ein letzter Blick durch die noch offen stehende Glastür: Charlotte wirkt wie hingehaucht, so jung, so zart, und doch steckt in dieser Sommerbrise ein bisschen Salz, das einem in den Augen brennt. Ihr herbes Gesicht, ihr trauriger Ausdruck, wer sie einmal gesehen hat, vergisst sie nie wieder.

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