Pop:Die Ästhetik der traurigen Mädchen

Kommt man dem Zeitgeist auf die Spur, wenn man die Popmusik statistisch analysiert? Zwei aufwendige neue amerikanische Studien haben es mal wieder versucht.

Von Andrian Kreye

Wenn man auf der Suche nach akademischen Beweisen dafür ist, dass sich der angelsächsische Teil der Welt derzeit vom Fluchtpunkt der Sehnsüchte zum kulturellen Trauerfall entwickelt, wird man schnell fündig. Zwei Studien haben es nun an der jüngeren und längeren Geschichte der Popmusik nachgewiesen. Weil Popmusik neben dem Film der direkteste Weg ist, sich Amerika und Großbritannien intellektuell zu erobern, und weil Popmusik neben der Comedy ein perfekter Gradmesser für den Geist der Zeit ist, sollte man die zunächst einmal ernst nehmen. Auch wenn sich die Frage stellt, ob man Musik mit den Mitteln der statistischen Analyse wirklich fassen kann.

An der University of California at Irvine werteten Forscher eine halbe Million Popsongs aus den Charts der Jahre 1985 bis 2015 aus und kamen zu dem Ergebnis, dass die musikalische Stimmungslage in dieser Zeit sehr viel trauriger geworden sei. Musterbeispiel für die neue Traurigkeit sind in jüngerer Zeit die Erfolge von Lana Del Rey oder Lorde, für deren Kunst es schon den Begriff "sad girl aesthetics" gibt, die Ästhetik der traurigen Mädchen, oder von Coldplay, die mit ihrer meisterhaften Weinerlichkeit noch jede Frühstücksradiosendung auf den Boden der Melancholie zurückgebracht haben.

Wut, Ekel und Angst haben stetig zugenommen

Ganz frisch ist die Studie "quantitative Stimmungsanalyse von Texten in der populären Musik" der Lawrence Technological University in Michigan. Die tut sich etwas leichter, weil Texte mit den Mitteln der Verschlagwortung statistisch leichter zu erfassen sind. Der Datensatz ist mit 6 150 Songs aus den amerikanischen Charts zwar nicht so gewaltig, dafür umfasst der Zeitrahmen von 1951 bis 2016 noch die anschwellende amerikanische Malaise der Präsidentschaftswahlen mit dem Aufstieg von Donald Trump. Um die Kurvenbilder, Fußnoten und Detailanalysen auf den Punkt zu bringen: Wut, Ekel und Angst haben in diesen 65 Jahren mit Ausnahme der ersten Hälfte der Achtzigerjahre stetig zugenommen, während parallel dazu Glück und Freude abnahmen.

Elvis Presley Plays Ukelele In 'Blue Hawaii'

Elvis Presley schaffte es mit seiner fröhlichen Jugendrebellion noch in die Mitte des bürgerlichen Kanons.

(Foto: Moviepix/Getty Images)

Sozialgeschichtlich findet man für diese Studien rasch Erklärungen. In England brachten die Thatcher-Jahre von 1979 bis 1990 eine neue Härte und Ungleichheit in die Gesellschaft, für die der Punk schon vorauseilend die Vorlagen für die musikalischen Wutausbrüche und Panikattacken geliefert hatte. In den USA verlief diese Entwicklung zweigleisig. Da kam der Bruch in der Popkultur des bürgerlichen, vor allem weißen Amerika Anfang der Neunzigerjahre mit Grunge, dessen Galionsfigur Kurt Cobain von Nirvana bis heute als Heiliger des Rock verehrt wird. Die Rückbesinnung auf die Wut hinter dem Weltschmerz, die über den Blues in die Rockmusik gelangte, kam nicht von ungefähr. Anfang der Neunzigerjahre musste die als Generation X etikettierte Jugend feststellen, dass sie nach zehn Jahren Wirtschaftsliberalismus, wie ihn Präsident Ronald Reagan und sämtliche seiner Nachfolger propagiert hatten, aus ihnen die erste Generation gemacht hatte, der es seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, nicht mehr besser als ihren Eltern gehen sollte, sondern schlechter.

Das aber ist ein Lebensgefühl, das weder für die Fröhlichkeit der Wirtschaftswunder-Fünfziger, noch für die kämpferische Aufbruchstimmung des "Classic Rock" der Sechzigerjahre oder die Glücksgefühle des Pop aus dem gesellschaftlichen Siegestaumel der anfangsemanzipierten Siebzigerjahre taugt. Der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev hat diese nun auch schon fast dreißig Jahre andauernde Agonie ganz gut auf den Punkt gebracht, als er sagte, die Jugend der Gegenwart unterscheide sich von ihren Vorgängern vor allem dadurch, dass sie nicht mehr mit aller Kraft darum kämpfe, nicht so zu sein wie ihre Eltern, sondern darum, genauso zu sein wie ihre Eltern. Abwehrkämpfe sind nie so heroisch und euphorisch wie Eroberungen. Da gibt es dann auch keinen Marsch durch die Institutionen mehr. Elvis Presley schaffte es mit seiner übersexualisierten Jugendrebellion noch bis in die Mitte des bürgerlichen Kanon. Lana Del Rey und Coldplay sind eher popgeschichliche Fußnoten.

Die Methodik der statistischen Modelle ist in der Regel von einer Willkür durchzogen

Noch dramatischer verläuft die Entwicklung in der Avantgarde des Pop, also in der afroamerikanischen Musik von Soul bis Hip-Hop. Da ging die Musik nach den kämpferischen Sechzigerjahren (James Brown und der Funk) und den euphorischen Siebzigern (Earth, Wind & Fire und Stevie Wonder) recht rasch in die nihilistische Steilkurve. Es war kein Zufall, dass sich Hip-Hop an der Westküste von der urbanen Folklore aus New York zum Vehikel für eine Weltsicht wandelte, in der sich der Sozialdarwinismus der Drogengangs, die Frauenfeindlichkeit jungmännlicher Resignation und der ethnische Separatismus der Gettos zu einer finsteren Melange vereinte. Es waren zunächst die Ehemaligen der radikalen Black-Power-Bewegung, die jene Street Gangs gründeten, aus denen dann der Gangsta Rap entstand.

Lorde

Musterbeispiel für die neue Traurigkeit des Pop: Ella Marija Lani Yelich-O'Connor alias Lorde.

(Foto: Universal Music)

Die Gruppe N.W.A. (eine Abkürzung für "Niggaz Wit Attitudes") schuf mit ihren ersten beiden Alben Blaupausen, die heute für die vor allem männliche Jugend ohne Hoffnung auf sozialen Aufstieg in aller Welt gelten. Was der in Sibirien geborene und über die Ukraine nach Deutschland eingewanderte Vladislav Balovatsky unter seinem Rappernamen Capital Bra seit drei Jahren regelmäßig bis an die Spitzen der deutschen Charts bringt, ist nichts anderes, als genau dieser überzogene Konsumdarwinismus und Männlichkeitskult, der einer Einwandererjugend als Ventil für die Enttäuschung dient, dass die deutsche Willkommenskultur keineswegs einen Weg in die deutsche Gesellschaft bedeutet. Und wie in Amerika auch, liefert sein Außenseiterrolle des Gangsta Rapper auch für die Bürgerkinder ein Stellvertreterdrama, an dem sie ihre eigenen Frustrationen abarbeiten können,

Mit Musik haben die Studien im Allgemeinen nur wenig zu tun. Die Methodik der statistischen Modelle, die in den akademischen Veröffentlichungen so akribisch augeschlüsselt werden, ist in der Regel von einer Willkür durchzogen, die letztlich nur darauf abzielt, vorgefasste Beobachtungen messbar zu machen. Das Erlebnis, ein berührendes Stück zu hören, bleibt eine Form der Transzendenz, die sich jedem Raster der Forschung entzieht.

Als Instrument soziologischer Feldforschung adeln die Studien den Pop allerdings als einen gültigen Spiegel der Gesellschaft und ihrer Stimmungslagen. Da bleibt selbst bei erwartbaren Resultaten die sehr späte Befriedigung, dass man den Pop als solchen und in all seinen Formen sehr ernst nehmen muss.

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