Politische Kunst:Musik, die von Gewalt erzählt

Wer ist der Komponist, der mit einem Werk über den Völkermord an den Armeniern die türkische Regierung verärgert?

Von Helmut Mauró

Natürlich hat der Komponist Marc Sinan immer nach Aufmerksamkeit gesucht für seine Projekte, insbesondere für die vier halbszenischen Konzertinstallationen, die um den Völkermord an den Armeniern kreisen. Im letzten Jahr, zum hundertsten Jahrestag des Völkermordes, führte er im Berliner Maxim-Gorki-Theater sein Stück "Komitas" auf, das an den armenischen Priester, Komponisten und Musikethnologen Komitas Vardapet erinnert. Der hatte den Genozid 1915 körperlich überlebt, psychisch zerbrach er daran. Zuvor hatte sich Marc Sinan mit den Projekten "Dede Korkut" und "Hasretim" an das Thema herangetastet. Für letzteres erhielt er mit den beteiligten Dresdner Sinfonikern 2011 den Sonderpreis der Deutschen Unesco-Kommission. In allen Projekten geht es um eine musikalische Annäherung an kulturelle und politische Traditionen.

Für sein aktuelles Stück "Aghet", das er wie seine übrigen Projekte mit den Dresdener Sinfonikern und deren Intendanten Markus Rindt erarbeitet hat, schlägt ihm großes öffentliches Interesse entgegen - und Protest der türkischen Regierung. Der türkische Botschafter in Brüssel verlangte die Löschung des Projektes von einer Webseite der EU. Markus Rindt ist deshalb verärgert. Und verblüfft. Denn die EU-Kommission hat den entsprechenden Link zu dem von ihr geförderten Projekt nach der offiziellen Intervention der Türkei tatsächlich aus dem Netz genommen. Rindt findet das skandalös und absurd. Die Türkei sei ja selber an diesem EU-Projekt gleichberechtigter Partner und Geldgeber.

Sinan bereitete seine Projekte stets akribisch vor. Er reiste mit Markus Rindt nach Anatolien und Kasachstan, hörte dort traditionelle Musiker und lud sie nach Berlin ein. So baute er in seine Komposition originale Stücke aus jenen Landstrichen ein, in denen die Armenier siedelten und durch die sie von folternden türkischen Soldaten in den Tod getrieben wurden, in denen sie auch von türkischen Dorfnachbarn misshandelt und gelyncht wurden. Es war der erste große und bis heute in den Details unfassbare Völkermord des 20. Jahrhunderts. In der Türkei wird dieser Holocaust, der unter den Augen deutscher Militärs stattfand, geleugnet. Sinan hat für seine musikethnologisch inspirierten Live-Installationen und Musiktheaterstücke bislang vor allem die Aufmerksamkeit des musikalischen Fachpublikums bekommen.

Er ist weiterhin eng mit der Türkei verbunden, war einst Stipendiat der deutschen Kulturakademie Tarabya in Istanbul, hat dort Freunde und Verwandte, ist kulturell sowohl im vorderasiatischen wie deutschen Kulturkreis zu Hause. Seine Biografie steht dafür: Der Gitarrist und Komponist wuchs als Sohn einer Türkin und eines Bayern in der Nähe von München auf, studierte bei der Gitarrenlegende Eliot Fisk und bei Joaquín Clerch am Mozarteum in Salzburg sowie am New England Conservatory of Music in Boston. Später unterrichtete er an der Musikhochschule Augsburg, heiratete nach Berlin, wo er heute lebt und arbeitet, künstlerisch und anderweitig, um Geld zu verdienen.

Der entscheidende Bezug zum Völkermord an den Armeniern ist Sinans Großmutter Vahide Akman, die den Genozid nur knapp überlebt hat und die bei einer türkischen Familie aufwuchs. Ihr widmete Sinan das aktuelle Stück "Aghet", in dem von "Völkermord" die Rede ist, anders als noch in "Dede Korkut", wo stattdessen der in der Türkei geduldete Begriff "Massaker" verwendet wird. Allerdings hatte schon damals das türkische Kultusministerium seine finanzielle Unterstützung zurückgezogen, auch der aserbaidschanische Botschafter war verärgert. Eine beteiligte Musikerin aus Aserbaidschan wurde von staatlichen Institutionen und ihren Verwandten massiv unter Druck gesetzt.

Marc Sinan Gitarrist

Komponist Marc Sinan.

(Foto: privat)

"Aghet" schlägt nun noch höhere Wellen. Und zwar erst jetzt vor der Aufführung in Dresden, während es um die Uraufführung letzten November im Berliner Radialsystem ruhig blieb. Die politische Gemengelage hat sich seitdem entscheidend verändert. Allerdings dreht sich "Aghet" nicht nur um die Armenier. Am Projekt sind Musiker aus dem ehemaligen Jugoslawien beteiligt, die sich im No-Borders-Orchestra zusammengefunden haben. Und auch denen geht es in erster Linie um ein gemeinsames Weiterleben, nicht nur um Anklage.

Das EU-Projekt ist ein Versöhnungswerk mit offizieller deutscher, türkischer und serbischer Beteiligung. Am 30. April wird "Aghet" nun in Dresden-Hellerau aufgeführt, im November dann soll es in Istanbul, im armenischen Eriwan und im serbischen Belgrad zu hören sein. Marc Sinan sagt heute, dass es ihm bei aller politischer Brisanz weiterhin um die Musik gehe. "Natürlich thematisiert diese Musik auch Gewalt", sagt er. Das hatte sich auch schon in "Dede Korkut" abgezeichnet, als Sinan mit langen Passagen an der Schmerzgrenze des Hörbaren arbeitete, um weniger das furchtbare Geschehen selber abzubilden, als vielmehr seine Reaktion darauf.

Das ist für sich schon eine künstlerische Grenzerfahrung für den Schaffenden selbst. Denn wie soll man in einer Klangerzählung aufarbeiten, was in Filmdokumentationen belegt ist, wie eineinhalb Millionen Menschen in die syrische Wüste getrieben werden, wie Kindern die Hände abgehackt werden, damit sie keine Nahrung und kein Wasser mehr aufnehmen können? Künstlerisch kommt man da an Grenzen, und es braucht viel Durchhaltevermögen, um solch ein Projekt umzusetzen. Das gilt für den Realisator Markus Rindt gleichermaßen wie für den Komponisten Marc Sinan, die beide nun auch mit persönlichen Folgen, Bedrohungen zumal, umgehen müssen.

Sinan findet dennoch deutliche Worte. "Was heute in der Türkei passiert", sagt er, "ist eine Fortsetzung der Geschichte von 1915. Große Teile der Innenstadt Diyarbakirs sind zwangsenteignet. 5300 sogenannte kurdische Terroristen wurde seit letztem Juli offiziell getötet. Das alles ist nur möglich, weil die Türkei die Integrität des Nationalstaats über die Menschen gestellt hat. Nicht der Staat dient dem Bürger, der Bürger hat dem Staat zu dienen, oder er darf in ihm nicht leben. Die Appeasementpolitik Europas ist brandgefährlich und wendet sich gegen die türkische Zivilgesellschaft. Diese Politik wird nicht aufgehen."

Und er zieht Parallelen zu Werken großer zeitgenössischer Komponisten und zu Werken, bei denen die Grenze zwischen Kunst und Politik ebenfalls verwischte oder einfach nicht mehr einzuhalten war: Krzysztof Pendereckis "Threnody to the Victims of Hiroshima" etwa oder Arnold Schönbergs "Ein Überlebender aus Warschau". Für Unrecht und Gewalt gebe es keine Sprache, die mächtiger sei als Musik, weil die Obszönität der Tat repräsentiert mit anderen Mitteln unerträglich wäre.

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