Plattenkabinett:Wer braucht schon Geschlechtsverkehr?

Kylie Minogue

Eyes wide shut: Das Cover von Kylie Minogues "Kiss me Once"

(Foto: Parlophone)

Titel wie "Sexy Love", "Sexercize", "Les Sex" hat Kylie Minogue eigentlich gar nicht nötig. Die Natur ist der Feind, erklären Egotronic, ohne auf linken Prinzipien davonzureiten. Und die Wiener Gin Ga müssen erfahren, dass es doch von Nachteil sein kann, aus Österreich zu kommen. Neue Alben im "Plattenkabinett", der Musik-Kolumne von SZ.de.

Von Sebastian Gierke

Kylie Minogue - Kiss Me Once

Langweilig. Wie die Bundesliga. "Kiss Me Once". Das neue Album von Kylie Minogue, das insgesamt zwölfte, das erste Minogue-Album auf Jay Z's Label Roc Nation. Seit fast drei Jahrzehnten ist die Australierin jetzt Teil des Popzirkus, dieser großen Eskapismusmaschine, mit der so viel Geld produziert wird, aber nur selten Emotion. Als bislang Einzige hat sie es geschafft, in vier Jahrzehnten jeweils ein aktuelles Album in den Top Fünf der britischen Charts zu platzieren. Mit immer dem gleichen, federleichten, langweiligen Dance-Pop. Ein bisschen verzweifelt mutet es an, dass sie diesmal gleich drei Songs mit Geschlechtsverkehr im Titel braucht, um Interesse zu wecken: "Sexy Love", "Sexercize", "Les Sex".

Wer so denkt, hat Recht. Natürlich. Aber nur in seiner Welt. Und die ist mit großer Wahrscheinlichkeit ziemlich klein. Denn im Pop gibt es eben nicht nur eine Wahrheit. Pop kann emanzipatorisch sein, ohne auch nur den Ansatz einer Ahnung davon zu haben. Pop ist ambivalent und widersprüchlich. Und es gibt mindestens zwei Möglichkeiten, mit dem Popmüll umzugehen, dem wir ständig ausgeliefert sind: sich abwenden oder sich ihm lustvoll ausliefern.

Erinnern Sie sich zum Beispiel an den Moment, als Sie zum ersten Mal "Can't Get You Out Of My Head" gehört haben? Ein Minogue-Song aus dem Jahr 2001, einer der eingängigsten Songs, die jemals geschrieben wurden. Man ist dieses Mistlied einfach nicht mehr losgeworden. Und genau deshalb ist es eines der besten. Hits sind ja deshalb Hits, weil sie einen nie langweilen. Im Gegenteil: Je genauer man sie kennt, desto genauer will man sie kennenlernen. Noch heute erzählen Menschen davon, wie euphorisiert sie waren, als sie das Lied zum ersten Mal gehört haben. Und wie sie sich anschließend dafür ein bisschen schämten.

Einen Über-Hit wie "Can't Get You Out Of My Head" gibt es auf "Kiss Me Once" nicht. Einige Songs sind nichtsdestotrotz toll. Die Single "Into the Blue" zum Beispiel, der Titeltrack "Kiss Me Once" oder das von Pharrell Williams produzierte "I Was Gonna Cancel".

Die Lieder, aufgenommen mit einer ganzen Reihe verschiedener Produzenten, klingen elegant, anstrengungs- und schwerelos, wie man es kennt von Kylie Minogue. Ein wenig weltvergessene Melancholie schwingt in ihrer Stimme mit. Musik, die nichts mit der Gegenwart zu tun haben will. Und genau diese Art von Eskapismus kann der größte Spaß des Pop sein. Aber hey, schon klar: muss nicht.

Dieses Lied muss auf das Sommer-Mixtape drauf: "I Was Gonna Cancel"

In welchem Raum des Hauses hört man es am besten? In der vollen Partyküche.

Dieser Künstler müsste das Album mal covern: Egotronic

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Egotronic - Die Natur ist Dein Feind

Der erste Song auf dem neuen Egotronic-Album beginnt mit lieblichem Vogelgezwitscher. Darüber ein paar hingetupfte Synthie-Töne. Doch schon nach einigen Sekunden setzt der Beat ein, treibend, die Vögel zerstampfend. "Die Natur ist Dein Feind", singt Torsun. So heißt der erste Song. So heißt das neue Album.

Torsun, bürgerlich Thorsten Burkhardt, leidet an einer Autoimmunerkrankung. Sein eigener Körper, so erklärt es der 39-Jährige selbst, "führt Krieg" gegen ihn: "Das ist eine feindliche Handlung." Den Albumtitel hat die Band auch deshalb gewählt.

Auch, aber nicht nur deshalb. Egotronic wären nicht Egotronic, wenn ihre Botschaft eine rein private wäre. Der Text ist natürlich politisch. Es geht um ein Gefühl, das die Krankheit verstärkt, das aber eigentlich jeder kennt: Das Gefühl, dass man sich selber hasst, dass man die eigene Natur hasst, die einen limitiert. Unser Körper erlaubt uns zu tanzen, setzt uns aber auch Grenzen.

Die Songs auf "Die Natur ist Dein Feind" sind fast durchweg tanzbar. Die Berliner verzichten im Vergleich zu früheren Alben auf alles Sperrige, auf Elektro-Gefrickel und Noise-Attacken. Für "Die Natur ist Dein Feind" hat Torsun seine Liveband ins Studio geholt, es klingt nach Indierock, nach Punkrock. Die Gitarre im Vordergrund.

Lange haben Egotronic nach dem kritischen Potenzial im Rausch, in der Ekstase gesucht, haben versucht, Politik, Parolen und Party zusammenzubringen. Doch der Rausch ist heute oft nur noch ein Mittel, um durch den Alltag zu helfen, er ist nötig, um anschließend wieder zu funktionieren. "Die Natur ist dein Feind" ist Egotronics Antwort darauf. Das sechste Album ist dunkler, wütender als die Vorgänger.

Torsun sagt, er habe sich seinen Hass seit den Teenagerjahren bewahrt. Und für seine düstere Stimmung gäbe es gute Gründe. Die Krankheit? Nein, die Lage. Die Proteste gegen das Flüchtlingsheim in Berlin-Hellersdorf zum Beispiel. Die machen ihn wütend. Rassismus, eines der präsentesten Themen des Albums, macht ihn wütend. In "Wie lange" singt er: "Willkommen ist hier keiner, der nicht eh schon dazugehört" Und: "Die Stärke der Gemeinschaft war hier immer schon eine Drohung. Ihre Sehnsucht, die Bereitschaft, hieß hier immer schon Verrohung."

Nicht alle Songs sind so gut wie "Wie lange". Seine Qualitäten als Texter stellt Torsun aber wieder eindrucksvoll unter Beweis: Subversion ohne altlinke, moralinsaure Phraseologie, prinzipielle Provokation, das schon. Trotzdem reiten Egotronic nie auf ihren Prinzipien davon.

Dieses Lied muss auf das Sommer-Mixtape drauf: "Die Natur ist Dein Feind"

In welchem Raum des Hauses hört man es am besten? Im düsteren Partykeller.

Dieser Künstler müsste das Album mal covern: Kylie Minogue

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Gin Ga - Yes/No

Bands aus Österreich dürfen hier auf Nachsicht hoffen. Warum, das habe ich in diesem Plattenkabinett zu der famosen Band Bilderbuch ausführlicher erklärt. Die Kurzversion: Weil die Bands aus Österreich kommen und weil man das hört.

Auf Gin Ga lässt sich das allerdings nicht übertragen. Die Wiener legen viel Wert darauf, international zu klingen, zeit- und ortlos. Leichter machen sie es sich dadurch nicht. Wem eine junge Band aus dem deutschsprachigen Raum einfällt, die in letzter Zeit mit englischen Texten das geschafft hat, was in diesem Business meist "Durchbruch" genannt wird, der sage bitte in den Kommentaren Bescheid. Danke!

Gin Ga jedenfalls musizieren auf einem Feld, auf dem es nicht gerade wenig Konkurrenz gibt. Und auf dem von entscheidendem Vorteil sein kann, zum Beispiel aus Schweden oder England zu kommen. Bands, die englischsprachigen Indierock machen, werden jedenfalls nicht berühmt, weil sie aus Österreich kommen, sondern obwohl sie aus Österreich kommen.

Gin Ga brauchen sich nicht vor der internationalen Konkurrenz verstecken, mit ihrem mehr als soliden Indiesound, deutlich inspiriert von den 1980ern. Opulent klingen die Arrangements auf "Yes/No", nach großem Pop, eingängig, manchmal allerdings etwas zu sehr nach Masterplan. Talent ist zweifellos vorhanden. Arroganz und gutes Aussehen auch - unverzichtbar in diesem Bereich. Es fällt aber schwer, etwas Außergewöhnliches in der Musik zu finden. Wie so viele arbeiten sich auch Gin Ga an der Optimierung der schon tausendfach bemühten musikalischen Emotionserzeugungsmechanismen ab. Ob das allerdings reicht, den Österreich-Malus zu besiegen? Nur für den Fall, dass: "Dschin Ga", so wird der Name richtig ausgesprochen. Und der Bassist, der kommt übrigens aus Manchester.

Dieses Lied muss auf das Sommer-Mixtape drauf: "Golden Boy"

In welchem Raum des Hauses hört man es am besten? Auf dem großen Partybalkon.

Dieser Künstler müsste das Album mal covern: Kreisky

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