Identität:Europa, du seelenloses Etwas

dpa-Story - Zur Europawahl im Mai

Sechsköpfige Hydra statt elegante Göttin: So sei Europa verunstaltet worden, meint Guez. Aber wie solle man sich mit einem solchen Ungeheuer identifizieren?

(Foto: dpa)

Ein Brief des französischen Schriftstellers Olivier Guez an einen Kontinent, den er über alles liebt - mittlerweile aber kaum wiedererkennen kann.

Gastbeitrag von Olivier Guez

Liebes Europa, oder sollte ich besser schreiben: mein armes Europa? Ich wähle das Du, weil wir vertraut sind, Du, die langjährige Geliebte, und ich, das Kind aus Straßburg, Deiner Herzenshauptstadt. Am Rhein, einer Deiner Arterien, bin ich aufgewachsen und nie glücklicher als auf den Autobahnen und in den Zügen, die Dein Territorium ädern. Die Biegungen Deiner Flüsse, Meere und Gebirge; die Erhabenheit Deiner Städte und Landschaften, der Reichtum Deiner Kulturen und der Charme Deiner Sprachen: Liebes Europa, Du bleibst das Objekt meiner Begierde, Du, dem es unseligerweise immer mehr an Bewerbern fehlt. Ich habe nicht vergessen, was wir Dir zu verdanken haben, Frieden und Wohlstand, seitdem Deine Kinder sich vor 75 Jahren gegenseitig umgebracht haben.

Aber was haben sie aus Dir gemacht? "Sie", die ängstlichen Politiker, die seit zwanzig Jahren Deine kleinen Nationen führen - oder gerne führen würden. "Sie", die Dir Vorwürfe machen, obwohl sie Dich frigide und hinkend in die Welt gesetzt haben, als gesichtslose Einarmige, damit Du zum Sündenbock ihres feigen und scheinheiligen Verhaltens wirst.

Armes Europa, Du bist nicht wiederzuerkennen. Sie haben Dich, die elegante Göttin, als sechsköpfige Hydra verunstaltet (der eine Kopf steht dem Rat der Europäischen Union vor und wechselt jedes halbe Jahr, der zweite leitet die Europäische Kommission, der dritte den Europäischen Rat, der vierte das Europäische Parlament, der fünfte die Europäische Zentralbank und der sechste die Euro-Gruppe). Wie soll man sich mit einem solchen Ungeheuer identifizieren? Wie seinen Metabolismus verstehen? In Brüssel und Straßburg hat man Dir zweckmäßige Paläste errichtet. Das Ganze ist hässlich und unpersönlich: die Fassaden glatt, die Architektur unterkühlt. Sie wollten Deine Banknoten, unsere gemeinsame Währung, nicht genau bestimmen. Statt die Gesichter Deiner Genies abzubilden - Dante, Goethe, Mozart, Picasso, der Götterreigen ist groß -, zeigen sie computergezeichnete Brücken, Tore und Fenster. Dabei hätten sie Deinen Bürgern ein Mitspracherecht bei den Abbildungen gewähren sollen - über eine allen zugängliche, wirklich kontinentale Internetumfrage. Wir könnten damit anfangen, einen Geldschein der beschädigten Kathedrale Notre-Dame zu widmen, diesem universellen Symbol europäischer Kultur, deren Brand die ganze Welt bewegt hat.

Sie haben es versäumt, Europa, Deine Geschichte zu erzählen und Dein Erbe (das sie nicht zu definieren gewagt haben) zu würdigen: das griechisch-lateinische und das jüdisch-christliche (auf der Iberischen Halbinsel und dem Balkan das islamische - das in den jahrhundertelang dem Osmanischen Reich unterworfenen Ländern zugegebenermaßen umstrittener ist); das Abenteuer der Renaissance und des Humanismus; und sie haben es versäumt, Deine mörderischen Antagonismen und vergangenen Verbrechen anzuprangern, Faschismus, Kommunismus, Kolonialismus. Sie wollten den künftigen Generationen keine gemeinsamen Traditionen hinterlassen, nur hohle Worte und schwammige Formeln. An den Schulen des Kontinents hätten sie Unterricht in europäischer Geschichte und Sozialkunde einführen und kleine Polyglotte ausbilden können! Von wegen. Und ahnen sie, dass es ohne europäische Erziehung, ohne kulturelle Basis nie eine Gemeinschaft, geschweige denn eine Solidarität geben wird? Wahrscheinlich. Im Grunde wollen sie Dich gar nicht. Höchstens wackelig und blutarm.

"Ich bin wütend auf alle, die aus Dir dieses seelenlose Etwas gemacht haben"

So haben sie Dich, liebes Europa, mitten auf der Furt zurückgelassen. Ihre Vorgänger waren wahnwitzige Risiken eingegangen, sie kannten Deine kriminellen Energien, die meisten hatten sie am eigenen Leib erfahren. Wir strebten ein großes Ganzes an, das Abenteuer war kollektiv und aufregend, als plötzlich alles aufhörte. Und nun bist Du, sind wir alle gelähmt, verfangen in den Netzen der unergründlichen und eigentlich unhaltbaren gemeinsamen Zuständigkeiten. Unmöglich, Dich zu verlassen, unmöglich, weiterzumachen, dafür fehlt der Wille, der Mut und Geschichtssinn, dafür fehlen die Frauen und Männer, die seit Anfang des Jahrhunderts Deine Geschicke leiten. Die dreckige Arbeit ist allein für Dich: Richtlinien, Normen und Regelungen aufstellen, Schulden und Defizite kontrollieren. Du bist die verhasste Finanzpolizei, das rote Tuch rechter und linker Populisten, die es sich auf Deine Kosten gut gehen lassen. Und Du bist schutzlos. Sie hofften, dass Dein seit Langem immer distanzierterer amerikanischer Vetter über Deine Sicherheit wachen würde. Jetzt sind wir die Geiseln Donald Trumps, weil sie als einzige so getan haben, als glaubten sie ans Ende der Geschichte.

So siegt die Provinzialität. Wie bei der Wettervorhersage im französischen Fernsehen, weiß man nicht, ja, pfeift darauf, wie die Wetterlage jenseits unserer lieben Grenzen aussieht. Wie in den französischen Nachrichtensendern, wo die Mikros seit ewigen Zeiten allen möglichen nationalistischen Lügnern offenstehen. Frankreich verstümmelt sich selbst und betreibt Nabelschau. Mit Großbritannien geht es den Bach runter. Deutschland zittert bei der Vorstellung, eine Gafa-Steuer zu erheben. Die Katalanen wollen ihre Unabhängigkeit von Spanien. Polen, Ungarn, Italien und ein paar andere nehmen den Mund zu voll: Alleine wären sie eher in der Lage, die globale Erwärmung, die großen Migrationen oder den Terrorismus zu bekämpfen. Ausgemachte Idioten! Russland, Amerika, China, der Türkei und dem katarisch-saudischen Islamismus läuft schon das Wasser im Mund zusammen. Sie träumen von Vergeltung und wollen Dich zerstückeln, nachdem Du Dich vor langer Zeit zu ihrer Eroberung aufgemacht hast.

Olivier Guez: Foto IPP Gioia Botteghi 20 06 2018 Roma Festival delle letterature 2018 nella foto Olivier Guez I

Der Schriftsteller Olivier Guez veröffentlichte zuletzt den Roman "Das Verschwinden des Josef Mengele" (Matthes & Seitz). Sein Brief "Chère Europe" ist auf Französisch im Wochenmagazin Nouvelle Observateur erschienen.

(Foto: imago/Italy Photo Press)

Das Bild ist düster, liebes Europa, aber ich bin traurig, immer noch genauso wütend auf alle, die aus Dir dieses fade und seelenlose, dieses geschichts- und gesichtslose Etwas gemacht haben, ein Schiff ohne Kurs und Steuer, den heftigen Strömungen preisgegeben. Zur Zeit des Kalten Krieges schrieb Milan Kundera, ein Europäer sei, wer nach Europa Heimweh habe. Heute schließe ich mich dieser Definition an. Leider.

Aus dem Französischen von Nicola Denis

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