Österreichs "Heimkehr ins Reich":Die Opfer, die jubelten

Adolf Hitler auf dem Balkon der Hofburg in Wien, 1938

Heldenplatz, 15. März 1938, Hitler ist angekommen. Die Wiener feiern die "Heimkehr ins Reich".

(Foto: SCHERL)

1938 marschierte Hitler in Österreich ein und annektierte das Land. Lange Zeit stellten sich die Österreicher als erste Leidtragende der NS-Gewalt dar. Nun bewerten sie ihre Rolle neu.

Von Cathrin Kahlweit, Wien

Es gibt jetzt mehr Nazis in Wien als achtunddreißig. Jetzt kommen sie wieder aus allen Löchern heraus, die über vierzig Jahre verstopft gewesen sind", heißt es in "Heldenplatz". Solche Texte mochten altgediente Burgschauspieler 1988 nicht sprechen, und schon gar nicht mochten sie sagen, Österreich sei eine "Kloake, verlottert und vermodert und verkommen". Das Stück von Thomas Bernhard, das seine Landsleute empörte, hätte 1988 zum 100. Geburtstag des Burgtheaters uraufgeführt werden sollen. Weil aber einige Burg-Stars ihre Rollen voller Wut zurückgaben, kam das Skandalstück erst mit einem knappen Monat Verzögerung auf die Bühne.

Was es auslöste - Beschimpfungen, Demonstrationen, Drohungen gegen den deutschen Intendanten Claus Peymann: Heute ist das alles Geschichte. In Wien lächelt man darüber, ein wenig verschämt, weil man als Österreicher ja tatsächlich hart im Nehmen sein musste, um sich als Teil einer großen post-nationalsozialistischen Verschwörung hinstellen zu lassen.

Und weil der Kloakengeruch andererseits eben doch übers Land wehte. Schließlich hatte das Land gerade erst die weltweite Debatte über den Beschönigungspräsidenten Kurt Waldheim hinter sich gebracht, der seine Rolle in der Wehrmacht verschwiegen und einen "Pflichterfüllungs-Diskurs" in Gang gesetzt hatte, wie das Österreichs Zeithistoriker heute nennen. Konnte es, fragte Waldheim, falsch sein, wenn man doch nur seine Pflicht getan hatte? Die meisten Österreicher nickten, nein, Pflichterfüllung war richtig, Waldheim wurde Bundespräsident, und die Mär von Österreich als Hitlers erstem Opfer lebte noch eine Weile weiter.

Und das Land blieb ja auch verlottert, im Bernhardschen Sinne zumindest. Die neuen Rechten unter Haider ("Lieben Sie Scholten, Jelinek, Häupl, Peymann . . . oder Kunst und Kultur?") wurden groß und regierten schließlich mit. Die Welt stand Kopf, erst Sanktionen wegen Waldheim, dann wegen der FPÖ, das nahmen viele Österreicher persönlich. Zumal die Deutschen immer vorne dran waren mit ihrer Kritik und sich als bessere Vergangenheitsbewältiger gerierten.

Die zweite Republik brauchte lang, bis die Bereitschaft da war, sich mit der Rolle der Politik und der Bevölkerung in den Jahren zwischen 1933 und 1938 und vor allem im schrecklichen Frühling 1938 auseinanderzusetzen. In diesem Jahr nun jährt sich der Tag des Anschlusses zum 75. Mal, und vieles, ja fast alles ist anders. Zwar stellen die Grünen anlässlich des Jahrestages kritisch fest, dass die Republik bis heute ihre Kriegsopfer, etwa in der Krypta am Heldenplatz, höher in Ehren halte als etwa Widerstandskämpfer oder Deserteure - und fordern daher als Zeichen des Respekts endlich ein angemessenes Denkmal für Deserteure wie auch die Umbenennung von Kasernen und öffentlichen Orten, die immer noch nach Kriegsverbrechern benannt sind.

So recht sie haben - das sind die üblichen Begleiterscheinungen eines jeden Gedenktages, der im Zusammenhang mit der NS-Herrschaft steht. Viel ist nicht geblieben von jener aufgeheizten Atmosphäre, die die Gedenkfeiern März für März über viele Jahre hinweg prägte.

Der Historiker Oliver Rathkolb hat denn auch beobachtet, dass die Debatte "lange nicht mehr so emotional aufgeladen" ist. Und dass sich der Forscherblick weg vom Opfermythos, hin zur Gesellschaft, zu den Bürgern, ihrer Verantwortung und ihrer Motivation wende. Die "weltgeschichtliche Kollaboration unterschiedlichster Bevölkerungsschichten" stehe jetzt im Fokus der Geschichtsschreibung.

Endlich Aufarbeitung

Die Aufarbeitung ist Alltag geworden, endlich: An Wiener Gymnasien werden heute sehr selbstverständlich jene Geschehnisse diskutiert, die in der Volksabstimmung zu einer Zustimmung von 99,73 Prozent führten. Kinder hören im Geschichtsunterricht schaudernd, wie Adolf Hitler, nachdem er am 11. März den Befehl für den Einmarsch erteilt und tags darauf in Braunau die Grenze überquert hatte, drei Tage später auf dem Heldenplatz vor jubelnden Österreichern die "Heimkehr ins Reich" verkündete. Und dann schauen sie befremdet auf den Stimmzettel der Volksabstimmung mit dem riesigen Kreis, wo man, wie die Legende daneben vorgab, das Ja einzutragen hatte und auf den winzigen kleinen Kreis, der für das Nein vorgesehen war. Darauf fielen die Erwachsenen rein?

Wie es dazu kam, wie die Vorgeschichte des Anschlusses mit ihren Manipulationen und Erpressungen, ihren Propagandaschlachten, Ultimaten und Machtkämpfen fast zwangsläufig zum Untergang von Österreichs Freiheit und Selbstbewusstsein führen musste, das zeigen eine Reihe von Veranstaltungen, Lesungen und Forschungsprojekten rund um den 75. Jahrestag. Neben einem großen Gedenkakt in der Hofburg und einer Gedenkfeier für NS-Opfer am Zentralfriedhof umkreist allein der ORF mit einem knappen Dutzend Sendungen den "Untergang Österreichs".

Mehr "moralische Fragen" als politische Antworten werden im Burgtheater gestellt, wo am 11. März - jenem Tag, an dem Bundeskanzler Kurt Schuschnigg mit den Worten "Ich weiche der Gewalt. Gott schütze Österreich" zurücktrat - in einer Lesung nach den Ursachen der Selbstaufgabe geforscht wird: "Welche Opferrolle kann ein Staat beanspruchen, der sich nicht wehrt? Der seine Armee, wenn es darauf ankommt, seine Unabhängigkeit zu verteidigen, in die Kasernen schickt? Dessen Regierungschef erklärt, er weiche der Gewalt?", heißt es in der Ankündigung des Theaters.

Der Anschluss soll, so scheint es, sachlich bewertet, seine Vorgeschichte überprüft werden. Den Auftakt für diesen selbstkritischen Erinnerungsreigen machte vorab die Nationalbibliothek. Zur Eröffnung der Ausstellung "Nacht über Österreich" durch Bundespräsident Heinz Fischer im Prunksaal der Bibliothek hatten sich für den 6. März etwa 800 Menschen angemeldet, was für eine Vernissage ungewöhnlich viel ist. "Nacht über Österreich" ist eine kleine, sehr sorgfältige Zusammenstellung von Originaldokumenten aus den Archiven des Hauses; sie zeigen die Chronologie der Ereignisse, den Einmarsch, die Propaganda, die Ergebenheitsadressen, und dann den Weg von 15 Künstlern und Wissenschaftlern ins Exil. Damit wolle man, wie die Generaldirektorin der Nationalbibliothek, Johanna Rachinger, sagte, den "kulturellen Rückschlag" verdeutlichen, den Österreich erlitten habe, und zeigen, dass das intellektuelle Niveau derer, die gingen oder gehen mussten, in dieser Ballung "nie wieder erreicht wurde". Die Nationalbibliothek sei ein "symbolischer Ort der Erinnerung und der Besinnung auf die weitverzweigten Wurzeln einer vielfach gebrochenen Identität".

Die Nationalbibliothek steht am Heldenplatz. Symbolhaft ist der Ort daher auch aus praktischen Gründen. Wo jetzt Briefe, Tagebücher und Erinnerungsstücke von Flüchtlingen und Emigranten wie das berühmte Fluchttagebuch der Berta Zuckerkandl und ein Kalendereintrag von Hilde Spiel ("Es ist alles hässlich und unerträglich. Die Eltern sitzen im Feuer. Der Teufel regiert") neben dem Kalenderblatt des Todestages von Egon Friedell (er stürzte sich am 16. März 1938 aus einem Fenster seiner Wohnung in den Tod) zu sehen sind, hatte Hitler, vom Balkon über dem Hauptportal der Bibliothek, vor zehntausenden hysterischen Anhängern den "Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich" verkündet.

Die Exponate erzählen, natürlich, Geschichten: Da ist der Heimatschein der Gemeinde Wien mit dem Eintrag IKG (Israelitische Kultusgemeinde Wien), der dem Schriftsteller Albert Drach das Leben rettete; er behauptete auf der Flucht, IKG stehe für "Im katholischen Glauben". Da ist die Liste der NS-Devisenstelle für den Auswanderer Adolf Kurt Israel Placzek; fast alles, was der Mann mitnehmen durfte auf seine Reise ins Exil, waren Hüte, Taschentücher und Socken. Den Rest behielt das Reich. "Nacht über Österreich" zeigt Geschichten jener, die der Nacht entkamen.

Nacht über Österreich. Der Anschluss 1938 - Flucht und Vertreibung. Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien. Bis 28. April.

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