Amerikanische Literatur:Ausweglose Sickness

US-Soldat bei Kämpfen im Irak, 2004

Kollektives Trauma: Der Irakkrieg ist bei Walker eine seelenlose Entmenschlichungsanstalt.

(Foto: dpa)

Der Irak-Veteran Nico Walker hat im Gefängnis einen abgründigen Roman über Krieg und Sucht geschrieben.

Von Gustav Seibt

Das Junggemüse, die Neulinge auf dem Schlachtfeld, die noch nicht wissen, wie man kämpft und die deshalb als hysterisch und unzuverlässig gelten, nennt der amerikanische Armeeslang "Cherries", Kirschen. Der namenlose Held von Nico Walkers Roman ist so ein Idiot, nicht nur im Krieg, den er leichtfertig aufsucht, sondern nach dem Krieg und durch ihn auch auf dem Schlachtfeld des Lebens. Ein Mensch, der zerbrochen liegen geblieben ist.

Die Geschichte verläuft in drei Abschnitten, die eine Spirale nach unten bezeichnen würden, wäre hier eine Entwicklung zu sehen: Vor dem Krieg, im Krieg, nach dem Krieg. Etwas genauer: Ein College-Anfänger aus ordentlicher Familie studiert ein bisschen herum, weiß nicht genau, was er will. Dann, fast aus einer Laune heraus, heiratet er und verpflichtet sich als Sanitäter für den Irak. Dort wird er Zeuge des ebenso sinnlosen wie bestialischen Kleinkriegs zwischen der hochgerüsteten Besatzungstruppe und der terroristischen Guerilla. Nach einem Jahr, es ist 2006, kehrt er zurück und hat das Leben verlernt. Seine Frau hat ihn derweil betrogen, trotzdem ziehen sie wieder zusammen.

Aus exzessivem Gebrauch von Schmerzmitteln wird eine brutale Heroinabhängigkeit. Der mit Dekorationen verabschiedete Soldat, der im Irak bei Razzien Hunderte Türen eingetreten und Privathäuser auf den Kopf gestellt hatte, wird, um seine Sucht und die seiner Frau zu finanzieren, zu einem bedenkenlosen, fast lässigen Bankräuber: Er spaziert kaum vermummt in die Filialen, legt seine Forderungen auf den Kassenschalter und geht mit dem Geld wieder hinaus. Der Überfall, der zur Verhaftung führt, eröffnet und beendet das Buch.

Das Buch ist auch eine Reportage über die Traumatisierung der Veteranen

Das Buch "Cherry" ist Teil der Geschichte, die es erzählt. Es wurde in einem Bundesgefängnis in Kentucky geschrieben, wo der mittlerweile über dreißig Jahre alte Autor, Irak-Veteran wie der Erzähler, wegen elf Banküberfällen einsitzt. Die jetzt schon beträchtlichen Erlöse des Romans dienten erst einmal dazu, die geraubten Summen zurückzuzahlen. Nico Walker gibt kurze Telefoninterviews aus dem Gefängnis und konnte sogar die Filmrechte zu seinem Roman versteigern, allerdings nur mit den von Telefonier-Zeitfenstern erzwungenen Unterbrechungen.

Die Idee zu dem Buch stammt von einem findigen Lektor, der Prozess der Erstellung und Bearbeitung des Manuskripts zog sich über vier Jahre hin, denn, natürlich, direkter Internetverkehr war vom Gefängnis aus nicht möglich. Eine mechanische Schreibmaschine, das Telefon und ein gutes Gedächtnis mussten genügen. Der Text wirkt trotzdem perfekt durchgearbeitet, er zeigt ein handwerklich tadelloses Stück Literatur. In einem Jahr soll Nico Walker entlassen werden - dass er überhaupt so schnell herauskommt, hat er seiner Armeevergangenheit, umfassender Kooperation mit der Justiz und psychiatrischen Gutachten zu verdanken, die eine besonders schwere Form posttraumatischer Störung diagnostizierten. Nach dem Krieg war er seelisch zerstört, daran lässt die Geschichte, die er erzählt, keinen Zweifel.

Man kann sie wie eine lange Reportage lesen, die wichtige Gegenstände vorführt, die brutale Absurdität der amerikanischen Kriegführung im Irak, die Verrohung und Traumatisierung der Veteranen, denen nicht geholfen wird, und die vom bedenkenlosen Schmerzmitteleinsatz beförderte Suchtkrise, die längst die Mittelschicht erreicht hat. Inzwischen lässt sie sogar die durchschnittliche Lebenserwartung in den Vereinigten Staaten wieder sinken. Große Themen, keines neu, aber selten so bedrückend und plastisch vor Augen geführt.

Die Schäbigkeit des Milieus ist Teil der Innenwelt, ein Zustand der Seele

"Cherry" ist kein Buch der Klage, keine Hillbilly-Geschichte. Warum der gebildete und literaturinteressierte Ich-Erzähler in den Krieg zieht, wird im Dunklen gelassen, ein wenig Liebeskummer, ein paar falsche Freunde, Unlust am College-Dasein, das scheint zu genügen. Der Drill bei der Ausbildung wird als Härte-Theater erlebt, man bleibt cool, und die mit analen und genitalen Kraftausdrücken übersäte Sprache bekommt ihren Sitz im Leben. Weil das Buch mit dem Ende beginnt, zeigt es auch keinen Weg nach unten, die trostlose Abgefucktheit von Ton und Stimmung herrscht von Anfang an.

Und wenn man von drei Phasen oder Akten spricht, dann sagt das übers Klima des Buches wenig. Die Verbindung von Langeweile und Gehetztheit, die den Krieg und die Sucht gleichermaßen kennzeichnen, ist von Anfang an da. Erst glaubt man einen gekonnten Genre-Roman zu lesen - ein amerikanischer Kritiker fand das Buch stilistisch altmodisch, als käme es aus den Siebzigerjahren -, aber literarisch stark wird es erst da, wo die Spannung abfällt und die Leere bleibt. Der Erzählabstand ist fast immer gleich: nahe Kamera, viel Dialog, Monotonie der Abläufe, wie im Krieg unvermeidlich. Die Sucht bedeutet die Verlagerung des Kriegs in den zivilen Alltag, das ist ihr eigentlicher Sinn. Banküberfälle liefern die Milligramme Gefahr, ohne die sich ebenso wenig mehr leben lässt wie ohne die Milligramme Heroin, die Pillen und das Kokain drumherum.

In den Freizeiten lenken sich die Soldaten mit Pornos ab

Erst dieses minimalistische Operieren am seelischen Nullpunkt macht das Buch größer als seine krassen Gegenstände. Wer es nur auf die Reportage zum Krieg abgesehen hat, kann sich auf Kapitel 32 beschränken, das einen besonders scheußlichen Vorfall wie in Zeitlupe erzählt: Eine nächtliche Ausgangssperre wird kontrolliert, die amerikanische Patrouille entdeckt einen Mann, der vor seinem Haus im Freien schläft und schießt ihm in den Bauch, weil er davonrennt. Der Erzähler schafft es als begleitender Sanitäter nicht, ihn am Leben zu erhalten. Dann tauchen Kinder, Frau und Mutter des Erschossenen mit Verzweiflungsgebrüll auf, die Leiche muss zur Untersuchung in der Armeebasis durch Abwasserkanäle voller Fäkalien geschleift werden.

In den Freizeiten lenken sich die Soldaten mit Pornos ab, sie schlucken die von zu Hause gesandten Pillen, einige quälen Mäuse für Snuff-Videos. Der Ich-Erzähler, der so wenig Regung zeigt, kopiert doch Fotos aus einem IKEA-Katalog in eine Word-Datei, als Traum von Häuslichkeit. Das ist vielleicht der traurigste Moment.

Die durchgehende Schrecklichkeit des Buchs kommt aber nicht allein aus der Abfolge grausamer Details, sondern aus der leeren, sinnlosen Zeit, die es aufbaut. "Cherry" ist überwiegend kein Page-Turner, aber es scheint kaum möglich, das Buch langsam zu lesen, weil man im Stakkato der Einzelheiten, militärischen Abkürzungen und Mannschaftsnamen stecken bleiben müsste.

Seine Lakonie wurde schon mit Denis Johnson verglichen, vor allem mit dessen Geschichtensammlung "Jesus' Sohn", aber die Parallele führt in die Irre. Bei Johnson gibt es immer diesen roten fernen Strich am Horizont, die Transzendenz einer fiebrigen Religiosität, die Unerlöstheit, die den Erlöser als Abwesenden gegenwärtig sein lässt. Nichts davon in "Cherry", keine negative Theologie, kaum Metaphern. Die Schäbigkeit des Milieus von Dealern, vermüllten Wohnungen, verpissten Fußböden und vollgekotzten Klamotten ist Teil der Innenwelt, ein Zustand der Seele.

Junkies auf Entzug, auf der Jagd nach dem nächsten Schuss sind "sick", "krank". Ausweglose Sickness ist das Klima des Buches von Anfang an. Das Dope "singt" im Blut und der eine oder andere Fick gerät toll. Mehr ist da nicht, und das ist entsetzlich. Man kennt das auch aus der Serie "Breaking Bad" und kann darüber grübeln, warum das Wort für Wort aufgeschrieben schlimmer wirkt als in einer spannenden Spielhandlung.

Einmal, noch vor der Verlegung in den Irak, sieht der Erzähler eine Mutter, die am Krankenbett ihres bei einem Verkehrsunfall unheilbar verletzten Sohns sitzt: "Ihr Leid war so unfassbar groß, wenn man sie anschaute, hatte man das Gefühl, direkt in die Sonne zu starren." Kurz nach dem letzten Überfall schaut er zu, wie eine Schar Vögel um einen durchgesifften Müllsack kämpft; das sei, sagt er auf einmal, die Schönheit der Dinge, die ihm das Herz zerreiße. Dann wird er verhaftet.

Nico Walker: Cherry. Roman. Aus dem Englischen von Daniel Müller. Wilhelm Heyne Verlag, München 2019. 379 Seiten, 22 Euro.

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