Musiktheater:Anarchische Töne

44 Harmonies Zürich - Pressebilder

Fehlende Töne und immer wieder Pausen gibt es bei Marthalers Inszenierung von Cages Geflecht aus verschiedenen Hymnen.

(Foto: Tanja Dorendorf / T+T Fotografie)

Der Regisseur Christoph Marthaler und der Komponist John Cage haben einiges gemeinsam. "44 Harmonies" in Zürich legt die Parallelen offen.

Von Egbert Tholl

Im Grunde ist es verwunderlich, dass Christoph Marthaler erst jetzt explizit ein Stück von John Cage inszeniert. Die beiden haben einige Wesensverwandtschaften zu bieten. Cage liebte die Stille und den organisierten Zufall, schrieb einmal, er nehme Abstand von allen Aktionen, die Dinge herausheben, die im Laufe eines Prozesses geschehen. Klingt wie die Beschreibung einer Marthaler-Inszenierung und passt auch zu "44 Harmonies from Apartment House 1776".

Damit kehrt Marthaler nach mehr als zehn Jahren an den Schiffbau des Schauspielhauses Zürich zurück und liefert seine im Kern sprödeste, intellektuellste, abstrakteste Arbeit seit Langem ab. Nur merkt das kaum jemand, denn um diesen thetischen Kern herum gibt es die ikonisch gewordenen Marthalereien seines gewohnt windschiefen All-Star-Ensembles in einem Bühnenbild von Anna Viebrock, das diesmal einen Wartesaal mit kleiner Bühne und großem Sandkasten zeigt.

Cage schrieb seine "44 Harmonies" 1976 zur Zweihundertjahrfeier der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, sammelte dafür 44 Hymnen von Komponisten, die 1776 nicht älter als 20 Jahre waren. Diese fügte er eng zusammen und ersetzte funktionstragende Töne durch Stille. Statt Kadenzen gibt es viele kleine Pausen, die Töne verlieren ihren Bezug, die Harmonie werde, so Cage, "anarchisch". Im Original sind es etwa 38 Minuten Musik für vier Gesangstimmen und Kammerorchester, es existiert aber eine Fülle rein instrumentaler Bearbeitungen wie etwa die für Streichquartett von Irvine Arditti.

In Marthalers Inszenierung spielt ein Quartett, aber ein ungewöhnliches, es besteht aus vier jungen Cellistinnen. Im Zentrum des Abends spielen sie für die zuhörenden Schauspieler stur die Musik, gute 20 Minuten. Da man um 1776 in engen Konventionen komponierte, ergänzt man unweigerlich im Kopf die fehlenden Töne, glaubt manchmal, vollständige Stücke zu hören. Danach folgt Marthalers etwa gleich lange Übersetzung in Sprache, ein babylonischer Verhau, bestehend aus Fetzen eines aleatorischen Interviews mit Cage, Unsinn, frei erfundenen Wörtern, seltsamen Geschichten voller Auslassungen.

Der einzig inhaltlich nachhaltige Moment des Abends ist Ueli Jäggis grandioser Vortrag zu Beginn, eine Art Bedienungsanleitung für das, was in den kommenden "acht Viertelstunden" passieren soll. Und es meist nicht tut. Der Rest ist reines Musiktheater, voll mit allem Möglichen. Zwischen Volkslied und Bachchoral wird ein Wald aus Notenständern gepflanzt und gegossen, aber solche Aktionen sind in ihrer Beiläufigkeit nur Beiwerk zur oben beschriebenen Gegenüberstellung der Ausdrucksysteme.

Marthaler befreit Sprache von semantischen Zusammenhängen und gibt ihr die wuchernde Anarchie eines Pilzgeflechts. Cage verehrte Pilze. Nun werden sie zur strukturgebenden Idee der Aufführung. Sonderlich sinnlich ist das nicht, aber als Idee faszinierend. Zum wohligen Ausklang gibt es dann das Adagietto aus Mahlers fünfter Symphonie.

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