Literatur:Die ganze Unwahrheit

Steven Uhly

Der Münchner Schriftsteller Steven Uhly wagt sich literarisch auf experimentelles Terrain.

(Foto: Michael Herdlein/dpa)

Der Münchner Autor Steven Uhly stellt seinen neuen Roman vor

Von Antje Weber

"Ohne Dichtung fehlt die Wahrheit." Diesen Satz hat der Buchhändler Keller seinen Söhnen fürs Leben mitgegeben; im neuen Roman von Steven Uhly erinnert ein Bruder den anderen an diese bibliophile Erkenntnis. Wer Uhlys Roman liest, kann hingegen zu dem Schluss kommen: Mit Dichtung fehlt die Wahrheit erst recht. Zumindest hat es sich der Münchner Schriftsteller offensichtlich zum Ziel gesetzt, mit diesem Buch noch den letzten Glauben an irgendeine Wahrheit in der Literatur wie in der Realität zu erschüttern.

"Den blinden Göttern" (Secession) ist bereits der sechste Roman Uhlys; an diesem Montag wird er ihn im Literaturhaus vorstellen. Und dieses Werk zeigt einmal mehr, dass der 54-jährige Schriftsteller unberechenbar ist, was die Wahl seiner Mittel angeht. Das Thema Wahrheit beschäftigt ihn zwar nicht erst seit diesem Buch; auch - nur zum Beispiel - in seinem wuchtigen, packenden Romanepos "Königreich der Dämmerung" von 2014 über Krieg und Schuld ging es letztlich darum, dass die Wahrheit nicht immer eindeutig zu benennen ist. War jener sehr erfolgreiche Roman jedoch vergleichsweise konventionell erzählt und trieb in jedem Kapitel einen anderen Handlungsstrang voran, so hat sich Uhly diesmal für ein sehr modernes, experimentelles Erzählen entschieden, für eine radikale Demontage.

Ignoriert man erste verdächtige Anzeichen, so beginnt der Roman ja noch relativ realistisch: Die Leser lernen die Hauptfigur Friedrich Keller kennen, Buchhändler wie sein Vater und sehr verschroben. Er wohnt allein in einem Haus in München, ab und zu einzig gestört durch seine kolumbianische Putzfrau Elvira. Der weltabgewandte Eigenbrötler lebt nur für die Literatur, die er in einer riesigen Bibliothek aufbewahrt. Wirklich glücklich fühlt er sich allerdings nur, wenn er in einem Stapel göttlicher Gedichte lesen kann, die ihm ein Unbekannter vor Jahren zugesteckt hat.

Diese immer wieder als schlicht genial gelobten "Haiku-Sonette" eines gewissen Radi Zeiler sind am Ende des Romans abgedruckt, so dass um Verständnis bemühte Leser alsbald zu blättern beginnen. Doch der Roman unterläuft jedes Bemühen um Verstehen immer stärker. Die Handlung wird brüchig, Brüder und andere Figuren tauchen auf, verschmelzen miteinander, nichts und niemandem kann man trauen. Und nicht nur Friedrich Keller findet irgendwann die ganze Geschichte "so absurd, dass er gar nicht wusste, wo er ansetzen sollte". Einen Hebel zum Ansetzen liefert Uhly allerdings doch: Möglicherweise ist das Ganze der Wachtraum eines Komapatienten im Krankenhaus, suggeriert er schließlich. Vielleicht ist, um auch das Krimigenre aufzurufen, übrigens auch ein Mord im Spiel. Und dann taucht gar noch ein Sprachwissenschaftler namens Ull, Ullily oder Uhlig auf, der die krude Geschichte aufgeschrieben hat.

Es ist ein Spiel mit den Möglichkeiten der Literatur, ein trotziges Spiel auch mit Erwartungen. "Diese Geschichte ist eigentlich zu verworren, um ein Bestseller zu werden", sagt das Alter Ego des Autors einmal, womit es sicher nicht falsch liegt. Und so urteilt auch der angebliche Literaturgott Radi Zeiler am Ende harsch: "Die Insassen dieser Irrenanstalt, die wir ,Wirklichkeit' nennen, wollen lieber eine verdauliche Welt, eine korrigierte Welt, eine Welt, in der jener verschlungene Liebesakt von Gut und Böse klar aufgetrennt, genau expliziert und eindeutig illustriert ist". Resigniert verkündet der göttliche Autor: "Das ist auch der Grund, weshalb ich aufhören werde zu schreiben." Ob das jedoch die Lösung ist? Ohne Dichtung fehlt ja vielleicht doch etwas, nicht wahr?

Steven Uhly, Lesung am Montag, 14. Januar, 20 Uhr, Literaturhaus

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