Literatur:Der Sog des schwarzen Wassers

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In Ulrike Anna Bleiers Debütroman "Schwimmerbecken" geht es um eine symbiotische Geschwisterbeziehung

Von Sabine Reithmaier

Ludwig verschwindet ganz plötzlich. Genauso unvermittelt kehrt er fünf Jahre später ins Elternhaus zurück und spricht eine Sprache, die niemand versteht. Seine Zwillingsschwester Luise hält es erst für indonesisch, dann für malaiisch, bis ihr klar wird, dass sich der Bruder in eine eigene Welt zurückgezogen hat. Nicht einmal sie findet noch einen Zugang zu ihm.

Aus 57 Episoden hat Ulrike Anna Bleier ihren ersten Roman "Schwimmerbecken" geknüpft, die Geschichte einer symbiotischen Geschwisterbeziehung. Erzählt wird radikal direkt und eindringlich ausschließlich aus der Perspektive Luises, die ständig zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin- und herspringt. Sie erinnert sich an Szenen aus der Kindheit, schildert aber auch ihr Leben, nachdem sich "Bruderherz", wie sie ihn nennt, daraus verabschiedet hat. Als Ludwig zurückkommt, wohnt sie noch bei den Eltern, hat keinen richtigen Beruf, abgesehen davon, dass sie Schwimmunterricht gibt. Mit normalen Jobs kommt sie nicht klar, "die ganzen Wochen über, die ich bei dieser Arbeit verbracht habe, habe ich die Bedeutung nicht verstanden". Sie ist chaotisch, für Ordnung und Struktur war der Bruder zuständig, er formulierte, "was ich träumte und ich musste nichts tun außer träumen".

Schuld an ihrer Unruhe und Sprunghaftigkeit ist, glaubt der Bruder, die Kollbach, jener mäandernde Fluss, den die Kelten "chail pacha" nannten, schwarzes Wasser. Kollbach heißt auch das Dorf, in dem Luise lebt, ein Ort, den es im Landkreis Rottal-Inn wirklich gibt. Für Bleier freilich ist es ein fiktiver Ort, und tatsächlich gibt es Kollbach zigmal: ein Dorf mit Wirtshaus, in dem Menschen Schnitzel und Pommes Frites essen, einem Kirchturm für Selbstmörder und einem heruntergekommenen Schwimmbad aus den Siebzigerjahren.

Dergleichen dürfte Ulrike Anna Bleier, 1968 in Regensburg geboren, oft gesehen haben. Inzwischen lebt sie zwar in Köln, aber ihre Kindheit und Jugend verbrachte sie in der Oberpfalz und in Niederbayern. Seitdem sie zum Studieren wegzog, setzt sie sich mit ihrer Heimat immer wieder literarisch auseinander, hat für Performance-Auftritte oder Moderationen sogar das Pseudonym "Greta von der Donau" gewählt. In der Kurzgeschichte "Den Vater fahren" (2011) beschreibt sie die Autofahrt eines jungen Mannes mit seinem demenzkranken Vater, die durch den Bayerischen Wald führt. Im Erzählband "Miriam - Prosa und Poetologie" spürt sie der Verbindung von Literatur und Lüge nach und analysiert das System aus Wahrheit, Lüge und Notlüge ihrer Deggendorfer Verwandtschaft. Und ihr "Schwimmerbecken" spielt nicht nur in Kollbach, sondern auch in Landshut, Regensburg und im Straubinger Tiergarten, in dem ein hinterhältiges Lama Luise anspuckt.

Der Sprunghaftigkeit der Ich-Erzählerin entspricht die Episodenhaftigkeit des Romans. Erst wirkt alles, was sie erzählt, nebensächlich, wenn auch jede kleine Geschichte in sich schlüssig konstruiert ist. Doch allmählich entfaltet der Roman - ähnlich dem in die Seelen der Einheimischen sickernden schwarzen Wasser der Kollbach - einen intensiven Sog, der unaufhaltsam in die grandios dichte Spurensuche hineinreißt.

Ulrike Anna Bleier: Schwimmerbecken , Edition Lichtung Viechtach, 160 Seiten

© SZ vom 09.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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