Kurzkritik:Fesselnd

Getanzte Dekonstruktion auf dem Tollwood-Festival

Von Hanna Emunds

Eine junge Frau nähert sich langsam dem hohen Zaun aus metallenem Gitter. Ihr Blick wandert über die Gesichter im Publikum, zurückhaltend, fast ein bisschen skeptisch. Die Musik setzt ein: leise, dann immer lauter wummern Bässe über den Theaterplatz des Tollwood-Festivalgeländes. Sie erinnern an Herzschläge und Stromstöße, der Körper der Tänzerin vibriert rhythmisch im Takt. Durch die Zuschauermenge bahnen sich ihre fünf Tanzpartner den Weg auf die Bühne. Zu orientalisch angehauchten Beats verschlingen sich ihre Körper zu fremdartig wirkenden Wesen, um sich im nächsten Augenblick schon wieder zu trennen. Mit Anlauf springen sie auf den Zaun, rütteln am Maschendraht, als sei er ein unüberwindbares Hindernis.

"D-Construction" heißt das Stück der französischen Tanz-Compagnie Dyptik, choreografiert von Souhail Marchiche und Mehdi Meghari, mit dem sie noch bis zum 20. Juli auf Tollwood zu sehen sind. In einer Mischung aus Hip-Hop, Breakdance und Contemporary Dance mischen sie sich unter die Menschen, nehmen sie bei den Händen und führen sie auf die Bühne. Auch wenn das manchen sichtlich unangenehm ist, es erfüllt doch seinen Zweck: Die Grenzen zwischen Publikum und Tänzern werden aufgehoben. Jeder wird zu einem einzigartigen Teil des großen Ganzen.

Dabei geht es den Tänzern aus St. Etienne eigentlich um etwas ganz anderes. Sie stellen sich die Frage, wie man aus einer Gesellschaft ausbricht, zu der man selbst gehört? Wie schafft man Identität in einer Gruppe, in der alle möglichst gleich sein sollen und wollen? Wenn sich ihre Körper ineinander verknoten, lässt das an Gestaltwandler denken, die Breakdance-Einlagen mit gewagten Sprüngen und Tritten an Kämpfe. Ihre Performance ist getanzter Widerstand, Rebellion mit vollem Körpereinsatz. Das reißt mit, nicht nur wegen der pulsierenden Beats. Die fließenden Bewegungen sind ansteckend, im Publikum wippen einige Füße im Takt. Auch als das Stück nach einer halben Stunde vorbei ist, versammeln sich viele Zuschauer noch vor dem Zaun, reden und tanzen. Eine Performance, die die Zuschauer auch nach ihrem Ende noch fesselt.

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