Kunstkritik:Cattelan trifft Eva Braun

Der Literaturwissenschaftler und Kurator Jean-Max Colard träumt von einer Documenta, auf der die säuberlich angebrachten Werke rasch wieder abgehängt werden. Er träumt wie ein Kapitän, der den Anker eines Schiffes lichtet, das kein Ruder hat.

Von Xaver von Cranach

"Nacht vom 12. zum 13. Dezember: Mitten in der Stadt krümmt sich ein Esel in einer zwischen zwei Türmen gespannten Hängematte. - Maurizio Cattelan." In einer anderen Nacht trifft ebendieser italienische Künstler auf Eva Braun. In wieder einer anderen Nacht befinden sich Stormtrooper im Pariser Palais de Tokyo, den beim Abendessen angetroffene Japaner übrigens "scheiße finden". In wieder einer anderen Nacht schreibt Charles Baudelaire Briefe an den 150 Jahre später, also heute lebenden Philosophen Jacques Rancière.

Jean-Max Colard, Literaturwissenschaftler, Kurator und Kunstkritiker, träumt sich durch die Kunstwelt, aber, und das ist entscheidend, er träumt nicht von etwas, sondern überführt den Traum konsequent ins Transitive: "Ich träume eine Kasseler Documenta, auf der alle aus den dominierenden Ländern des Kunstmarkts stammenden oder auf die eine oder auf die andere Weise mit den großen New Yorker, schweizer oder deutschen Galerien verbundenen Werke zunächst einwandfrei montiert, alsbald aber systematisch abgehängt werden." Er träumt Ausstellungen, Künstler, einzelne Werke, Partys und Gespräche.

Die von Colard selbst als "kritische Träume" bezeichneten Miniaturen entstanden zwischen 2005 und 2013, wurden ursprünglich im Internet veröffentlicht und schließlich als Buch herausgegeben. Zwei verschiedene Kategorien gibt es: die im Nachhinein entstandenen und die "antizipativen Träume", die vor einem geplanten Ereignis entstehen, einer Ausstellung, die zu sehen, einem Text, der zu schreiben ist. Als Colard Anfang Juli in Berlin die deutsche Übersetzung von "Die Ausstellung meiner Träume" vorstellte, sprach er von seinen "Nachtaktivitäten", die für ihn, der sonst hauptsächlich Kritiken für die Kulturzeitschrift Les Inrockuptibles schreibt, besonders wichtig waren. Colard gilt in Paris als Hansdampf in allen kulturellen Gassen, der auf Grund seines literarischen Zugangs zur Kunstkritik, der von ihm kuratierten Ausstellungen (wie vor zwei Jahren im Centre Pompidou über die Schriftstellerin Marguerite Duras) und der in seinen Texten auch zur Schau gestellten Freundschaft zu Künstlern (zum Beispiel zu Cyprien Gaillard) von der sonst üblichen Distanz des Kritikers zum Milieu, über das er schreibt, nicht viel hält. Insofern stellen die kritischen Träume ein Experiment dar, die zentrale Erwartung an Kritik, zu unterscheiden und zu urteilen, gezielt zu enttäuschen. Stattdessen macht er sich quasi durch die Falltür aus dem Staub. Statt zu unterscheiden, wird zusammengewürfelt, statt zu urteilen, wird weitergesponnen.

Colard ist wie ein Kapitän, der den Anker eines Schiffes lichtet, das kein Ruder hat

Man kann hierin vielleicht den Versuch sehen, einen emphatischen Kritikbegriff zu rehabilitieren, der versucht, durch die Auseinandersetzung mit dem Gesehenen ein neues Reflexionslevel zu erreichen. Walter Benjamin nannte das in seiner Schrift "Der Begriff der Kunstkritik in der Romantik": "objektiv produktiv, schöpferisch aus Besonnenheit". Indem Colard die Kritik nun an den Traum bindet, schöpft er quasi aus seinem Unbewussten, das dem täglich mit Kunst konfrontierten Kritiker als vollgesogener Schwamm dient, den er im Traum genussvoll ausdrückt: der Traum als review, also als wieder Gesehenes: Man schreibt auf, was man noch einmal vor dem inneren Auge gesehen hat, aber anders als der Kunstkritiker ist der Träumende dabei hochgradig ausgesetzt - und zwar sich selbst. Wie ein Kapitän, der den Anker eines Schiffes lichtet, das kein Ruder hat.

Natürlich weiß der Leser nie, wie exakt Colard einen Traum im Nachhinein notiert hat, ob er ergänzt oder ganz erfindet. Es ist die Ungewissheit, die die Aura des Traums ausmacht und die auch auf den Leser der kritischen Träume überspringt. Ein "Labor des Zweifels" sieht Colard in seiner träumerischen Praxis, und es ist höchst produktiv, sich in diesem Labor umzusehen und zusammenzumischen, was einem vielversprechend erscheint. Also einfach das Namens-, Sach- und Ortsregister aufzuschlagen und sich von Cyprien Gaillard über Tennis bis ins ZKM Karlsruhe zu verlesen. Eine Vermessung der gegenwärtigen Kunstszene, nur dass der Kartograf schlief, als er zeichnete, und man sich daher auf nichts wirklich verlassen kann. Im Zweifel nur auf die Lust am Spiel.

Jean-Max Colard: Die Ausstellung meiner Träume. Wolff Verlag, Berlin 2016. Aus dem Französischen von Christian Hartwig Steinau. 117 S., 14,90 Euro.

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