Kunst:Zerschlagen, um neu anzufangen

Das Kunstmuseum Basel untersucht die Wirkung des Kubismus auf die Moderne. Die große Schau weitet sich zu einer Anthologie der Avantgardebewegungen in den Jahren zwischen 1907 und 1917.

Von Gottfried Knapp

Basel war für Kunstliebhaber wohl noch nie so attraktiv wie derzeit. Zur spektakulären Schau über den jungen Picasso - sie ist noch bis 26. Mai in der Fondation Beyeler im Vorort Riehen zu sehen - gesellt sich nun im Kunstmuseum Basel die kongeniale Fortsetzung, die Ausstellung "Kosmos Kubismus. Von Picasso bis Léger", die all die bei Beyeler gemachten Vorandeutungen revolutionärer Entwicklungen auf dem hohen Niveau der Vorgängerschau einlösen kann.

Wohl noch nie ist der Pariser Teil der Entwicklungsgeschichte der Moderne so umfassend dargestellt worden. Und noch nie sind die Genietaten, die Picasso innerhalb eines einzigen Jahrzehnts vollbracht hat - auf die Blaue und die Rosa Periode folgte der Kubismus -, eindrucksvoller zu erleben gewesen als in diesen beiden Schauen, die von den zuständigen Pariser Museen konzipiert worden sind.

In den Räumen des Kunstmuseums ist der "Kosmos Kubismus" schlüssig in neun Kapitel unterteilt. Im ersten Raum - er trägt den Titel "Primitivismus" - ist zu erleben, wie radikal Picasso, Georges Braque oder André Derain um 1907 auf die irritierend fremdartigen Werke außereuropäischer Kulturen reagiert haben. Archaische Kultobjekte treffen hier auf moderne Bilder.

Da findet beispielsweise eine ovale afrikanische Holzmaske mit winzigen Augenschlitzen eine fast schockierende Antwort in den zwei gemalten feuerroten Ovalen, auf die Picasso in einem Gemälde die Gesichter von "Mutter und Kind" reduziert hat. Und Picassos aus einem Holzbalken herausgehauene totemartige Skulptur hat in einem afrikanischen Nagelfetisch - einer von Nägeln und Klingen durchbohrten hölzernen Männerfigur - ihr fernes Vorbild und ihre dramatische Entsprechung.

Vom immer etwas kühleren Braque ist hier der plastisch auf die Leinwand modellierte "Große Akt" zu sehen, mit dem der Maler programmatisch auf Picassos protokubistische Arbeiten reagiert und sich dem kühn experimentierenden Kollegen als Mitstreiter angeboten hat.

Wie diese beiden Männer in den folgenden Monaten auf das allmähliche Verholzen der von ihnen gemalten Figuren mit immer präziseren Spaltungen antworteten und so gemeinsam den Kubismus entwickelten, wird in den folgenden Räumen zum Ereignis. Besonders eindrucksvoll lässt sich der Einfluss von Paul Cézanne nachvollziehen. Cézanne hat sich in seinen Landschaftsgemälden auf wenige Braun-, Grün- und Blautöne beschränkt und die Motive aus abstrakt nebeneinander stehenden Farbflächen zusammenkomponiert.

Aus Bäumen und Hügeln wurden "Kuben" - so entstand der bald gängige Stilbegriff "Kubismus"

Diese Form der Reduzierung muss auf junge Künstler, die nach neuen Ausdrucksformen suchten, wie ansteckend gewirkt haben. Auch sie reduzierten nach der großen Pariser Cézanne-Retrospektive ihr Farbspektrum auf ähnliche Farbtöne und setzten die entsprechenden Flecken hart nebeneinander.

Die von Braque gemalten "Bäume bei L'Estaque" (1908) sehen farblich und formal so aus, als seien sie herausvergrößerte Ausschnitte aus Cézannes zerpflückter Ansicht der Landschaft am Mont Sainte-Victoire, die in der Ausstellung direkt daneben hängt. Bäume und Hügel schießen in diesen Kompositionen zu braunen schollenartigen Gebilden zusammen, die von den Zeitgenossen als "Kuben" erlebt und beschrieben worden sind und so das Stichwort lieferten für den bald schon gängigen Stilbegriff "Kubismus".

Diese verhärteten Einzelteile werden nun im Folgenden auseinandergerissen, in geometrische Formen gezwungen, mit harten Rändern versehen und dann immer schroffer gegeneinander verschoben. Nur noch Reste von braunen Tönen können sich im grau-schwarzen Splitterwerk durchsetzen. Das Gesicht des Kunsthändlers Ambroise Vollard in Picassos berühmtem Porträt von 1910 besteht nur noch aus spitzwinkligen Flächen und wirkt doch aufsässig präsent. Die gegeneinander gerichteten Zacken geben dem Kopf eine fast fleischige Plastizität.

Wie sich diese auf der Fläche erzeugte Räumlichkeit auf eine reale Skulptur übertragen lässt, hatte Picasso schon 1909 vorgeführt: In Vorzeichnungen hat er damals den Kopf seiner Partnerin Fernande mit hart modellierenden Parallelstrichen so plastisch herausmodelliert, dass er anschließend bei der Herstellung der Plastik den Gips nur noch entsprechend eckig zurechtkneten musste, um die erste Bronzeplastik im kubistischen Stil zu bekommen.

Sie klebten Schnüre, Fotos, Zeitungsausrisse auf die Leinwand und erfanden so die Collage

1911 schalteten Braque und Picasso vom Analytischen zum Synthetischen Kubismus um. Bis dahin hatten sie die zur Abbildung vorgesehenen Gegenstände bis zur Unkenntlichkeit fragmentiert, entfärbt, also physisch weitgehend aufgelöst. Nun machten sie sich in schöner Übereinstimmung daran, die freigeschlagenen Teile nach eigenen Vorstellungen neu zusammenzusetzen.

Dieses kompositorische Spiel ließ sich am lustvollsten zelebrieren, wenn man sich auf markante Umrissformen konzentrierte, die auch bei totaler grafischer Reduzierung noch zu entschlüsseln waren, wie etwa die bauchig runden Formen von Musikinstrumenten. Die Kubisten orientierten sich als Maler nun also nicht mehr an der Motivvielfalt der existierenden Welt, sie schufen sich aus einzelnen isolierten Formfragmenten eine eigene Welt, die Gegenständliches andeuten konnte, aber keineswegs musste. Der entscheidende Schritt in Richtung Moderne war getan.

Auf einzelnen Zeichnungen und Bildern aus jener Zeit können sich die geometrischen Muster und Farbflächen noch in freier Abstraktion bewegen, aber bald schon holen die Kubisten wieder Realpartikel in ihre abstrakten Konstruktionen herein: Mit handfesten Bildelementen, die der Alltagsrealität entnommen sind, steigern sie die Kontraste. Zunächst taumeln schablonierte Buchstaben und Reklamezeichen wie Zitate im gemalten Liniengestrüpp herum. Doch dann schneiden die Maler Motiv- oder Textfragmente aus Zeitungen aus, kleben diese Fundstücke in ihre grafischen Kompositionen und setzen so aus ganz heterogenen Elementen neuartige Bildmuster zusammen.

Ganz beiläufig haben die Kubisten um 1911 also die Collage erfunden, die im 20. Jahrhundert noch glanzvolle Zeiten erleben sollte. Picasso eroberte mit dieser neuen Bildtechnik, bei der flache Gegenstände übereinandergeklebt wurden, bald den ganzen dazugehörenden Raum. 1912 montierte er erstmals ein Wachstuch, das mit dem Muster eines Rohrstuhlgeflechts plastisch geriffelt war, auf eine mit Buchstaben bekritzelte Leinwand und rahmte das quasi zum Sitzen einladende ovale Bild mit einer Kordel aus dickem Seil.

Danach gab es in Richtung Skulptur kein Halten mehr. Picasso hob die auf der Malfläche grafisch angedeuteten Musikinstrumente in die dritte Dimension. "Mandoline und Klarinette" sind nun aus Tannenholzbrettern und Rahmenleisten grob zusammengenagelt. Und "Geige und Flasche" bekommen durch hintereinandergestellte Bretter, aufgespannte Bindfäden und ein eingeklebtes gedrechseltes Holzstück ihre verblüffend lebendige Präsenz. Die bizarr gezackten "Absinthgläser" aber, die Picasso aus Wachs geformt und oben mit echten Absinthlöffeln und Zuckerwürfeln gekrönt hat - sie können auch als verzweifelt gereckte Hände gedeutet werden - teilen etwas mit von der Faszination, die damals vom Absinth-Ritual ausging.

Picassos und Braques Werke wären allein schon einen Ausflug nach Basel wert. Aber Paris hat unter dem Stichwort Kubismus noch sehr viel mehr Aufregendes zu bieten. Der Ausblick, den die Ausstellung bietet, weitet sich zu einer Anthologie der Avantgardebewegungen in den Jahren zwischen 1907 und 1917. Der Maler Juan Gris hat die frechen bildnerischen Neuerungen der Kollegen mit quasi altmeisterlichem Harmoniegefühl nachzelebriert. Fernand Léger konnte, von den kubistischen Form- und Farbzerlegungen ausgehend, eine schlagende bildnerische Antwort auf den Mechanismus der modernen Welt finden. Und Robert Delaunay hat mit seiner Aufspaltung der Motive in bunte Farbflächen eine erzählerisch elegante Variante des Kubismus entwickelt, die von Anfang an geliebt wurde und auch in Deutschland einige Maler zum Nebeneinander von reinen, kräftigen Farben ermutigt hat.

Von den Bildhauern ist Henri Laurens mit seinen bemalten Holz- und Blechskulpturen den kubistischen Vorstellungen wohl am nächsten gekommen. Aber auch die plastischen Arbeiten von Alexander Archipenko, Jacques Lipchitz oder Constantin Brancusi sind ohne die Impulse des Kubismus nicht denkbar. Dass aber auch viele andere Größen der Moderne - so unterschiedliche Künstler wie Marcel Duchamp, Piet Mondrian, Francis Picabia, Kasimir Malewitsch oder Henri Matisse - irgendwann auf den Kubismus reagiert haben, kann die Ausstellung mit prominenten Beispielen schlüssig beweisen.

Am schönsten lässt sich die schockartige Wirkung des Kubismus auf die Zeitgenossen aber in dem Kurzspielfilm "Rigadin peintre cubiste" nacherleben, den Georges Monca 1912 gedreht hat. Der Komiker Rigadin spielt darin einen Mann, der von den im Kunstsalon ausgestellten kubistischen Bildern zunächst entsetzt ist, dann aber begeistert Bilder mit Kistenfiguren zu malen beginnt und schließlich sich selber und seine pummelige Frau zu spitzeckigen Kuben umformt, die sich kaum mehr bewegen und nicht mehr umarmen können.

Kosmos Kubismus. Von Picasso bis Léger. Kunstmuseum Basel. Bis 4. August. Katalog (Hirmer)

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