Kunst im Bau:Steht still! Lacht nicht!

Wie die Performerin Vanessa Beecroft einmal hundert nackte Frauen in der Neuen Nationalgalerie Berlin zusammen brachte und zu Kunst erklärte.

TOBIAS TIMM

Draußen an der großen Glasfront der Neuen Nationalgalerie stehen drei Dutzend italienische Schüler im Berliner Nieselregen und drücken sich die Nasen platt.

Kunst im Bau: Mal nachzählen ....

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(Foto: Foto: dpa)

Anlass zur Neugierde bieten zahlreiche Frauen, die fast unbekleidet sind. Das freut die Ragazzi. Drinnen herrscht Beklemmung. Hier probt die Künstlerin Vanessa Beecroft für eine ihrer Performances, in der stets größere Gruppen von spärlich bekleideten Frauen zu sehen sind. Einige Journalisten dürfen zuschauen.

Es ist viel Scham im Haus. Die nackten Frauen schämen sich, die Künstlerin im hellgrauen Trenchcoat schämt sich, und der Betrachter, der in die Rolle des Voyeurs gezwungen wird, schämt sich auch.

Denn die Frauen können zurückschauen. Es ist nicht wie in der Peepshow, wo der Voyeur sich hinter einem Guckloch verstecken kann. Es ist auch nicht wie im Museum, wo man Beecrofts Fotos betrachtet. Hier wird die Gewalttätigkeit des Blicks gleichsam live verhandelt.

Vanessa Beecroft, 1969 in Genua geboren, studierte in Mailand Kunst und lebt und arbeitet heute in New York. Die Herald Tribune nannte ihre Arbeiten "the artworld's current excuse for softcore peeping", und die brasilianische Presse titulierte sie anlässlich der Biennale in São Paolo als die "Leni Riefenstahl der Performance".

Seit Mitte der neunziger Jahre verkauft sie ihre Arbeiten und die Bilder, die sie von ihnen herstellt, sehr gut. Im vergangenen Jahr zeigte man in Bielefeld eine große Retrospektive ihrer Arbeiten. Vielleicht ist der Zenit ihres Erfolgs erreicht.

Vielleicht muss Beecroft deshalb nun die Produktion steigern: Sie schickt die Models in höherer Stückzahl in das Schaufenster, als das die große Halle von Mies van der Rohe fungiert. Bei früheren Performances waren es zwanzig, dreißig, höchstens fünfzig Models gewesen, die stundenlang stehend ausharrten.

Hier in Berlin sind es nun hundert Frauen, so viele wie noch nie.

Seriell sind bei Beecroft schon die Bildtitel: Sie bekommen fortlaufende Nummern, denen die Initialen ,VB' vorangestellt sind. Die Performance in Berlin heißt "VB 55".

Heute Abend wird sie vor großem Publikum aufgeführt. Was bezweckt die Künstlerin mit ihren Aufstellungen? Hasst Vanessa Beecroft Frauen? Oder sich selbst? Oder kritisiert sie den Schönheitswahn und die Körperindustrie in der westlichen Welt, die an einer Uniformierung der Frauenkörper Schuld seien?

Beecrofts nackte Frauen waren stets jung, schlank, nackt, teilweise rasiert - und schön.

Sie waren immer auch "other selves" der Künstlerin, standen mit Perücken maskiert als ihre Doubles da. Für eine ihrer ersten Performances führte die Italienerin ein Tagebuch, in dem sie minutiös ihre Essstörung dokumentierte.

Beecroft nahm den Frauen stets ihre kleinen Makel: Sie uniformierte sie durch Make-up. In Berlin fehlen Kosmetik und Perücken. Zur Uniformierung der Hundertschaft dienen nur durchsichtige Feinstrumpfhosen und Mandelöl, mit denen die Körper zum Glänzen gebracht wurden.

Wie stets hat Beecroft den Darstellerinnen einen Verhaltenskodex geschrieben: Seid regungslos! Lacht nicht! Unterhaltet euch nicht! Eine rothaarige Psychoanalytikerin liest den Frauen laut die Regeln vor. Ein Assistent muss dann nackte Leiber verrücken, Beecroft selbst scheut den direkten Umgang mit den Damen. In Berlin hat Beecroft Frauen mit Körpern casten lassen, die nicht dem klassischen Schönheitsideal entsprechen müssen.

Auch 65-Jährige sollen sich unter ihnen befinden. Manche der Frauen sind dünn, manche wohlgenährt, einige haben große Busen, andere krumme Nasen. "Ist die da vorne rechts schwanger?", fragt eine Journalistin ihren Kollegen. Durch die Heterogenität des Körperensembles gehen die Faszination und der Schrecken der Gleichheit verloren, die sonstige Arbeiten der Künstlerin auszeichnen. Eine postfeministische Kritik am Schönheitswahn ist "VB 55" jedenfalls nicht.

In Berlin, so Beecroft, wollte sie ein "menschlicheres Bild" gestalten als sonst in ihren Performances. Den Berlinern könnte man etwas Raues, Ungeschminktes zumuten. Etwa, weil die Stadt hässlicher als andere ist? Nein, weil die Deutschen philosophischer sind, sagt Beecroft reichlich rätselhaft. Wie sie ihre vegetarische Kost streng nach Farben trennt, so hat sie auch die Frauen nach Haarfarben sortiert aufgestellt.

Es gibt drei Blöcke: Schwarz, rot, blond. Die Nationalgalerie und ihr Freundeskreis freuen sich über das deutschlandfarbene Event. Peter Raue, der das MoMA nach Berlin holte, und Peter-Klaus Schuster, der Berliner Museumsgeneral, deuteten auf der Pressekonferenz an, dass dies wahrscheinlich die letzte Performance Beecrofts in diesem Umfang sei.

Ein historischer Moment? Vanessa Beecroft wusste davon nichts. In Toronto und Paris wird sie bald wieder nackte Frauen aufstellen.

"VB55", Neue Nationalgalerie, Berlin, 20 Uhr. Rest-Tickets an der Abendkasse.

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