Kunst:Diese Schönheit passt in kein Quadrat

Pressebilder: GALLERIE DELL'ACCADEMIA DI VENEZIA
DAL 17 APRILE AL 14 LUGLIO 2019
LA MOSTRA
LEONARDO DA VINCI. L'UOMO MODELLO DEL MONDO

Einer der berühmtesten Männer der Welt, zugleich ein Missverständnis: Leonardos "Vitruvmann" entstand um 1490.

(Foto: Archivio fotografico G.A.VE. Su)

In Venedig ist Leonardo da Vincis berühmter "Vitruvmann" ausgestellt.

Von Kia Vahland

Er ist der wohl berühmteste Nackte der Kunstgeschichte, bekannter noch als Michelangelos "David": Leonardo da Vincis "Vitruvmann". Der Mann in Kreis und Quadrat findet sich auf der Ein-Euro-Münze, einer Weltraumstation, Medizinprodukten, Hochschullogos, überall also, wo jemand wahlweise Fortschritt, Kreativität, Ganzheitlichkeit oder Rationalität für sich beansprucht. Die Bild- und Bedeutungskarriere des "Vitruvmannes" begann 1939 in der faschistischen Leonardo-da-Vinci-Ausstellung in Mailand, dort war nicht nur die Zeichnung zu sehen, sondern auch eine überdimensionale Reproduktion. Der Körper sei "unsere Maschine", hieß es in der Schau; Leonardos Mann stand für die Normierung des Menschen, wie der Faschismus sie propagierte.

Nun gibt es die seltene Gelegenheit, sich einmal nicht mit all den Projektionen zu beschäftigen, die den "Vitruvmann" seit 80 Jahren wie Aschewolken umnebeln, sondern ihn selbst zu befragen. Die Accademia in Venedig zeigt im 500. Todesjahr des Meisters ihre Schätze. Dies sind rund zwei Dutzend Zeichnungen da Vincis, zudem verwandte Werke seiner Weggefährten. Der gut gebaute, etwas missmutig blickende Lockenträger strahlt nichts von der Spontanität der anderen Blätter Leonardos aus. Hier sucht der Künstler nicht zeichnend nach Lösungen, sondern setzt Lineal und Zirkel punktgenau an, um mit Tinte, Tusche und einem Metallstift eine Erkenntnis kundzutun: Vitruv irrt.

Der Baumeister und Ingenieur von Cäsar und Augustus hielt den Bauchnabel für den Mittelpunkt des menschlichen Körpers. Vitruv schrieb, ein Mann, der mit ausgestreckten Gliedern auf dem Rücken liege, passe gleichermaßen in ein Quadrat und einen Kreis, beide Male wäre der Nabel die Mitte.

Leonardo aber misstraute solchen angeblichen Gesetzmäßigkeiten, solange er sie nicht im Experiment bestätigt sah. Also nahm er, wie nach ihm Albrecht Dürer, an diversen Modellen Maß. Die Männer, die er betrachtete, hatten unterschiedliche Proportionen. Selbst aber ein so idealschöner Mann, wie es der Gelockte auf der Zeichnung ist, wird Vitruvs Annahme nicht gerecht. Leonardo musste die Mitte des Menschen unterschiedlich hoch ansetzen: Der Nabel bildet nur das Zentrum des Kreises, beim Quadrat dagegen liegt der Mittelpunkt auf Höhe der Scham. Zudem muss der Mann im Kreis die Arme nach oben strecken und die Beine spreizen, während er gerade steht und die Arme waagerecht hält, um das Quadrat von innen zu berühren. Der Mensch ist das Maß der Dinge, Zirkel und Lineal sind es nicht. Leonardos Experiment gibt den Humanisten recht und straft alle Normierungsfantasien Lügen.

Präzise zeigt die Ausstellung, wie Leonardo so weit kam. Er arbeitete sich erst an einem kahlen Kopf ab (im Schädel vermutete er den Sitz der Seele), berechnete die Abstände zwischen Ohr und Auge, Kinn und Nase. Dann versetzte er seine Figuren in Aktion, ließ sie rennen und tanzen, gegeneinander kämpfen und einander berühren. Ein Blatt aus dem Codex Huygens des Künstlers Carlo Urbino kopiert wohl Leonardos heute verlorene Studie zum "Vitruvmann": Hier wirbelt der Nackte geradezu die Geometrie durcheinander.

Der Mensch ist bei Leonardo da Vinci nicht statisch, sondern ein Wesen in Raum und Zeit, die Fähigkeit zur Bewegung macht ihn aus.

Leonardo da Vinci. L'uomo modello del mondo, bis 14. Juli in der Accademia in Venedig.

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