Von DJs und VJs:Lichter der Großstadt

Das Digitalanalog-Festival vereint Klassik, Pop, elektronische Klänge und Videosequenzen zum großen, urbanen Kulturerlebnis

Von Dirk Wagner

Die digitale Welt taugt nicht zur Improvisation? Das ist ein Irrtum. Ein Beispiel: Als ihn der in München lebende Tausendsassa Darcy auf die Bühne bittet, findet der Münchner Liedermacher Liann sein Violoncello nicht, und für einen Augenblick gerät die ganze schöne Inszenierung in Gefahr. "Darcy & Friends" heißt die Revue, die Darcy sich eigens für das Digitalanalog Festival erdacht hat, und in der er als Sänger samt Band mit Gastmusikern wie Henny Herz oder Alma Naidu eigene Songs sowie die seiner Gäste neu interpretiert. Dazu visualisiert die Videokünstlerin SicoVaja alias Valerie Holmeier die Stimmung der Musik mit kurzen Sequenzen aus alten Schwarz-Weiß-Filmen. Sie mixt diese ineinander, immer dem Klang der Musik folgend.

Für jeden Song hat sie eigene Videoclips vorbereitet, die sie mit Überblendtechniken live zur Musik manipuliert. Auf einer riesigen Leinwand im Rücken der Band treiben die Bilder die Musik auch optisch ständig voran. Dort schmelzen dann die Wände des Kölner Doms ebenso zu abstrakten Linien wie die Straßen aus einem 1939 gedrehten Film über die Reichsautobahn. Wie alle anderen VJs, die auf diesem Festival gleichberechtigt mit den Musikern ihre Kunst entfalten, hat SicoVaja ihre Bildideen zuvor mit den ihr zugeteilten Bands besprochen. Doch weil Liann nun sein verflixtes Cello nicht findet, doch weder der Flow eines Konzerts noch der enge Zeitplan des Festivals eine Unterbrechung dulden, improvisiert Darcy mit einem Mal, von einem weiteren Gitarristen begleitet, ein neues Stück.

Spontan lässt die VJane Humphrey Bogart durch den Kölner Dom wandeln

SicoVaja hat dafür freilich kein Bildmaterial vorbereitet. Doch mischt sie geistesgegenwärtig ihre Videoclips neu. Spontan lässt sie Humphrey Bogart durch den Kölner Dom wandeln. Das gelingt so formvollendet, dass das Publikum die Panne kaum mitbekommen hätte, wäre Darcy in seiner Moderation nicht wiederholt darauf eingegangen. Die Crowd im Carl-Orff-Saal tanzt begeistert dazu. Und beim nächsten Song streicht Liann schon mit dem Bogen über die Saiten der wiedergefundene Bassgeige.

Auch anderen Video-Jockeys gelingt es auf dem zweitägigen Festival virtuos, Pannen zu kaschieren. Dem VJ-Trio Dreschwerk Kollektiv zum Beispiel. Aus den Farben des Schallplattencover-Artworks kreiert es zum am selben Tag veröffentlichten Album der Popband Matija eine derart mitreißende Videoprojektion, das man meinen könnte, die VJs hätten die Vorlage schon lang vorher in Händen gehalten. Das war aber schlicht unmöglich, hatte die Band doch um 3 Uhr nachts erst einmal das Kölner ARD-Studio betreten. Dort waren Matija und ihr gleichnamiger Sänger an diesem Morgen zu Gast in einem Fernseh-Morgenmagazin. Und zurück in München, nutze die Band im Gasteig die Zeit zwischen Soundcheck und Auftritt auch noch, um auf der Showbühne des Münchner Radiosenders M94.5 ein Interview zu geben. Weil der Sender vor kurzem seine UKW-Frequenz verloren hat, war es den Veranstaltern von Digitalanalog ein Anliegen, ihm auch jenseits von Digitalradio und Internet eine Öffentlichkeit zu bieten.

Wie der Sender seinen Auftrag versteht, jenseits des Mainstreams ein gutes Radioprogramm zu machen, war bei einem Live-Gespräch über das Trautonium zu verfolgen. Diesen 1929 erfundenen Vorläufer des Synthesizers hatte Peter Pichler im Carl Orff Saal eindrucksvoll in Szene gesetzt. Ein Streicherensemble hatte ihn dabei mit Kompositionen von Hindemith und Genzmer begleitet. Bei dem anschließenden Interview begegnet der Pichler dann der Kuratorin der Musikinstrumentensammlung des Deutschen Museums, Dr. Silke Berdux.

Sie bereitet aktuell eine Ausstellung zum Trautonium-Mastermind Oskar Sala vor. Ihr Vortrag weckt bei den Zuschauern eben solch reges Interesse, wie die im Korridor des Gasteigs bereit stehenden Modular Systeme. Deren Klangmöglichkeiten konnten die Zuschauer, wie schon in den Vorjahren, in einem Rondell selbst ausprobieren.

Es ist die Mischung, die dem Digitalanalog Festival seinen besonderen Charme verleiht: Das Publikum kann dort Kunst-Installationen wie etwa "Das Labyrinth des Vergehens" des Wiener Künstlerpaars Dornwittchen in Koproduktion mit den Münchner Musikern Die Stadtkindersehen, Konzerten und Visuals beiwohnen, und an High-Tech-Apparaten selbst kreativ werden. "Digitalanalog" weckt generationenübergreifend die Neugier an der Verknüpfung von künstlerischen Möglichkeiten. Möglichkeiten, die die Gegenwart ebenso reflektieren wie sie neue Wege aufzeigen. Die vor allem aber mit einem vielfältigen Programm von Klassik bis Ska ein urbanes Miteinander vorbereiten, das vom gegenseitigen Respekt genährt wird. Ein Miteinander also, das erst den Namen Kultur verdient.

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