Kleine Philosophie des Wodkas:Die Ästheten unter den Wirkungstrinkern

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Goldene Regel: Zwischen dem ersten und zweiten Glas Wodka darf es nur eine symbolische Pause geben. Und doch: Zu befürchten ist, dass der Schnaps aus dem Osten langsam an Prestige verliert. Wir sind konfrontiert mit der totalen Ausnüchterung der Slawen. Von Juri Andruchowytsch

Die Etymologie ist oft irreführend, sie erklärt nicht wirklich etwas. Besonders dann nicht, wenn hinter einem Wort komplexe Bedeutungsschichten liegen, von der täglichen Routine bis hin zum rituellen Sacrum. Das, was auf Deutsch "Schnaps" heißt, lässt sich ja wohl kaum von "schnappen" herleiten. Das russische Wort "Wodka" dagegen ist völlig eindeutig das Diminutivum von "Woda" und heißt so viel wie "Wässerchen". Diejenigen Russen (es ist die überwiegende Mehrheit), die liebevoll "Wodotschka" sagen, versteigen sich also zum Diminutivum im Quadrat. Das ukrainische Wort "Horilka" hat völlig andere Ursprünge -- es kommt von "hority", brennen, ist also eine direkte Entsprechung des deutschen "Brand" und beinhaltet somit Alpha und Omega des ganzen Schnaps-Zyklus: Technologie der Herstellung und Physiologie der Anwendung.

Das deutsche "der Wodka" ist wohl auf ein Missverständnis zurückzuführen, eine grammatikalische Unstimmigkeit der Kulturen. (Foto: N/A)

Die ukrainische und die russische Bezeichnung zusammen ergeben die indianische: "Feuerwasser". Auf jeden Fall aber handelt es sich sowohl beim ukrainischen "Horilka" als auch beim russischen "Wodka" um Damen, beide sind weiblichen Geschlechts, weswegen sie sich in männlicher Gesellschaft am wohlsten fühlen. Das deutsche "der Wodka" ist wohl auf ein Missverständnis zurückzuführen, eine grammatikalische Unstimmigkeit der Kulturen.

Gelehrte Russen versichern, dass die Formel für Wodka vom genialen russischen Chemiker Mendelejew ausgebrütet wurde, dem Schwiegervater des Dichters Alexander Blok und nebenbei auch Entdecker des Periodensystems der chemischen Elemente. Gemäß der Lehren Mendelejews muss Wodka vierzigprozentig sein. Jede Abweichung hiervon -- sei es eine Verminderung, sei es eine Erhöhung des Alkoholanteils -- gefährdet die Gesundheit. Ich bin Getränken gegenüber misstrauisch, die 38 Prozent haben oder sagen wir 45. Ich glaube den Schlussfolgerungen Mendelejews blind, obwohl ich nicht sicher weiß, ob er sie irgendwann einmal wirklich gezogen hat.

Nach einigen Jahrhunderten Zugehörigkeit zu allen möglichen, überwiegend imperialen russischen Staatsgebilden ist die Ukraine ungewollt in den Schatten der russischen Kultur geraten. Dass Wodka ein unvermeidliches Attribut der russischen Lebensweise ist, manchmal sogar Inbegriff dieser Lebensweise, weiß die ganze Welt. Die Wortkombination "Russian Vodka" scheint so unzertrennlich und gewöhnlich, dass sie fast schon zur Tautologie wird. Das Phänomen "Ukrainian Horilka" hingegen ist weitgehend unerforscht und bleibt der Welt verborgen.

Das Trinken von Horilka ist zweifellos ein Ritual. Zwischen dem ersten und dem zweiten Glas darf es nur eine rein symbolische Pause geben. Wie ein ukrainisches Sprichwort sagt, sollte nicht einmal eine Kugel zwischen ihnen hindurchfliegen. Nach dem dritten Glas kann man die erste Zigarette rauchen. Nach dem sechsten oder siebten erzählt man sich schmutzige Witze und lacht laut darüber. Nach dem neunten beginnt man zu singen.

Ein grundlegender Unterschied zwischen den beiden nationalen Trinkmodellen -- dem ukrainischen und dem russischen -- besteht darin, dass die Russen um einiges extremer sind.

Ist Horilka für die Ukrainer nur ein Mittel, sich in Stimmung zu bringen, so suchen die Russen im Wodka die vollkommene Verschmelzung mit dem Absoluten (nicht mit dem schwedischen natürlich) und das Eintauchen in tiefste existentielle Abgründe. Die Ukrainer wollen einfach nur gut essen und singen (letzteres ist für sie dasselbe wie atmen), den Russen aber geht es darum, die Wahrheit zu erkennen, also sich die Venen aufzuschlitzen oder unter dem unerträglichen Einfluss plötzlicher Erleuchtung ihrem Nächsten den Schädel einzuschlagen. Die Ukrainer essen zu jedem Glas Schnaps etwas Nahrhaftes und Intensives, Speck zum Beispiel. Die Russen essen nichts dazu, riechen nur manchmal am Brot -- ihrer Ansicht nach ist es hinausgeworfenes Geld, zum Wodka etwas zu essen. Er soll nicht schmecken, sondern wirken. Und die Chance darauf ist um so größer, je weniger gegessen wird. Verallgemeinernd könnte man sagen, dass es sich im ukrainischen Fall um ein Mittel handelt, im russischen aber um den Zweck selbst.

Deshalb halten es die Russen auch für amoralisch, bei Wodka wählerisch zu sein oder ihn zu verschmähen. Wie sie immer wieder betonen, gibt es nur "guten" oder "sehr guten", keine dritte Variante. Die Statistik der von Wodka minderer Qualität, also "gutem" und "sehr gutem" Wodka, hervorgerufenen Todesfälle oder außerordentlich schweren Vergiftungen gleicht einem russischen nationalen Martyrologium. Und wenn es sich also um Religion handelt (und für die Russen ist es genau das), dann treten zur Gemeinschaft der heiligen Märtyrer jährlich Hunderttausende neu hinzu.

Die ukrainische Schnapsindustrie hat während des vergangenen Jahrzehnts einen offen hedonistischen und weltlichen Weg eingeschlagen; die unterschiedlichsten Sorten wurden entwickelt (es gibt schon mehr als tausend, und eine Aufzählung allein der Namen gliche einem außerordentlich reichhaltigen Werk der Barockpoesie!) und immer neue Geschmackskombinationen erfunden.

Allein die süß-scharfe Zusammenstellung von Honig und Pfeffer bei einer der populärsten Marken! Meine Moskauer Freunde -- solche, die vom verrotteten europäischen Liberalismus durchdrungen sind und sich von den jahrhundertealten russischen nationalen Werten abgewandt haben -- bitten mich deshalb immer, eine oder zwei Flaschen ukrainischen Horilka als Gastgeschenk mitzubringen. Obwohl Wodka nach Moskau tragen auf den ersten Blick dasselbe zu sein scheint wie Reis nach Schanghai.

Aber nur auf den ersten. Denn Wodka ist das eine, Horilka etwas völlig anderes: Wir können heute davon ausgehen, dass der kulturelle Divergenz-Prozess abgeschlossen ist und wir es mit zwei völlig unterschiedlichen Arten von Getränk zu tun haben. Oder -- in Übereinstimmung mit der Kategorie des grammatikalischen Geschlechts -- mit zwei Schwestern aus der gemeinsamen Familie der Vierzigprozentigen. Was sie verbindet, ist höchstens noch die drohende allmähliche Verdrängung vor allem im Alltag der Jugendlichen, der Frontalangriff des Bieres und der schwachen, alkoholisch-sprudelnden Nichtigkeiten, globalisatorischer Gin-Tonics und Brandy-Colas.

Ich will nicht unken, aber die Tendenz der letzten Zeit deutet darauf hin, dass sowohl Wodka als auch Horilka unter den Jüngeren langsam an Prestige verlieren.

Sollte sich diese Tendenz durchsetzen, dann werden wir, vorausgesetzt wir leben noch, in einigen Jahrzehnten mit einem ungeahnten zivilisatorischen Kataklysmus konfrontiert -- der totalen Ausnüchterung der Slawen.

Der Autor, 1960 in der Westukraine geboren, ist Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm der Roman "Zwölf Ringe" im Suhrkamp Verlag.

Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr.

© SZ vom 1.8.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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