Klassik:Die Botschaft der Zikaden

Bei Open-Air-Aufführungen begegnen sich zwei der fundamentalen Gegensätze menschlicher Existenz - Natur und Kultur.

Von Reinhard J. Brembeck

Es war noch im letzten Jahrtausend, als der Adlatus des Bürgermeisters von Avignon ein paar deutschen Journalisten folgende Geschichte erzählte. Da sei doch vergangene Woche ein enervierter amerikanischer Tourist nachts auf eine Polizeiwache gekommen und habe verlangt, damit er endlich schlafe könne, dass das ununterbrochene Gezirpe der Zikaden abgestellt würde. Das Grinsen des Adlatus war breit und voll des süffisanten französischen Antiamerikanismus. Der Amerikaner ist abgereist. Die Zikaden aber durchschrabbzen mit ihrem Gegrrrrze nach wie vor die provenzalischen Nächte, nicht nur in Avignon, sondern auch im nahen Aix-en-Provence. Damit sind sie integraler Bestandteil der dortigen Open-Air-Festivals und verbinden sich mit Molières Texten und Mozarts Musik.

Aber nicht nur das Grillengezirp mischt sich in die Kunst, auch andere Parameter der Natur verbinden sich mit ihr und verändern sie so: die Wärme, der Duft, der Wind, das Rascheln der Blätter, die Luftfeuchtigkeit, der meist klare Sternenhimmel und der Mond. Das alles ist sicher auch Kitsch. Aber es macht für viele Zuschauer den spezifischen Reiz von Open Air aus. Sie kommen, weil sich hier zwei der fundamentalen Gegensätze menschlicher Existenz begegnen, Natur und Kultur, also eine menschenunabhängige und eine von Menschen geschaffene Sphäre. Dieser Gegensatz geht weit über den Kitsch hinaus. Er beschreibt die condition humaine an ihrem zentralen Schnittpunkt. Der Mensch wird fassbar als ein Grenzgänger zwischen diesen beiden sich ständig bekriegenden Sphären, zwar beiden zugehörig, aber ohne die Möglichkeit, sich für nur eine entscheiden zu können.

Der Ballettklassiker "Giselle" bleibt in der Spielstätte der Alhambra ein Fremdkörper

Die auf dem Sabika-Hügel unterhalb der Sierra Nevada gelegene Alhambra in Granada ist der magischste Sehnsuchtsort Europas, der maßgeblich durch die Nasriden gebaut wurde, die letzte dort herrschende Araberdynastie. Comares- und Löwenpalast, diese allein aus Geometrie, Gips, Kacheln, Holz, Kalligrafie, Leichtigkeit, Eleganz und buntem Glas geschaffenen Paläste des 14. Jahrhunderts, und die Sommerresidenz Generalife bilden die Kulisse für das 1952 erstmals ausgetragene Festival de Granada, das neuerdings von dem in Granada geborenen Dirigenten Pablo Heras-Casado geleitet wird. Es ist ein im Vergleich zu Salzburg, Bayreuth und Aix armes Festival im armen Andalusien, das vor allem Gastauftritte präsentiert in den zwei Spielstätten der Alhambra.

Das Teatro del Generalife lässt keinen Blick zu auf den gleichnamigen Sommersitz. Streng zugeschnittene Büsche umgeben das unter freiem Himmel sitzende Publikum, Zypressen säumen die provisorisch überdachte Bühne, die Zikaden sägen, der Mond geht auf, ein leichter Wind macht den Aufführungsbeginn um 22.30 Uhr bei 34 Grad erträglich. Dann wird der Ballettklassiker "Giselle" als Gastspiel aus dem Théâtre du Capitole Toulouse gegeben, mit einer hinreißend schwerelosen Natalia de Froberville als der tanzsüchtigen Protagonistin, die auch noch nach ihrem Tod ihren untreuen Geliebten schützt. Adolphe Adams Musik kommt vom Band, Kader Belarbis Inszenierung ist konventionell. In keinem Moment verlässt den Zuschauer das Gefühl, dass diese für ein geschlossenes Haus geschaffene Aufführung hier ein Fremdkörper ist, da sie sich nie auf die Natur einlässt oder das arabische Ambiente. Da können die Zikaden noch so laut zirpen, es kommt zu keinem Austausch zwischen Natur und Kultur.

Klassik: Die Welt, die von der klassischen Musik so gern ausgeschlossen wird, ist bei Open Air immer beteiligt: hier das Festival in Aix-en-Provence .

Die Welt, die von der klassischen Musik so gern ausgeschlossen wird, ist bei Open Air immer beteiligt: hier das Festival in Aix-en-Provence .

(Foto: Vincetn Pontet/Festival Aix)

In der Alhambra ist eine der ersten und größten Bausünden Europas zu bestaunen, das quadratisch gerade Prisma des klobigen Renaissancepalasts, den Kaiser Karl V. in einem verqueren Winkel zu den Nasridenpalästen bauen ließ, diese wuchtig überragend. Dieser Carlo Quinto genannte Bau ist Siegerarchitektur der übelsten Art. Im Inneren öffnet sich ein riesiger kreisrunder Innenhof, der den Blick nach oben in den Himmel zwingt. Hier dirigiert am Abend nach der "Giselle" Pablo Heras-Casado das Mahler Chamber Orchestra. Auf dem Programm stehen Igor Strawinskys "Pulcinella", Manuel de Falls "El sombrero de tres picos" und die Uraufführung des 3. Violinkonzerts von Peter Eötvös, gespielt von Isabelle Faust.

Den ganzen Tag schon hängt über Granada eine fahle, schwüle Dunstwolke, der Einbruch der Nacht macht das Atmen bei Konzertbeginn um 22.30 Uhr nicht leichter. "Pulcinella" tänzelt präzise und barock stolzierend über die Bühne, Umbaupause. Dann beginnt das Violinkonzert, das Eötvös "Alhambra" betitelt hat, mit einem Violinsolo. Fremdheit kommt auf, Raues folgt auf Zartes, bald mischt das Orchester mit. Eötvös, Jahrgang 1944 und einer der etablierten Klassikkomponisten, folgt keinem der gängigen Schemata. Er liefert eine Reflexion über das Fremde. Da sind die vertrauten Instrumente, aber sie entfernen sich ständig von der Hörerwartung, von der Folklore, die gelegentlich anklingt. So evoziert Eötvös im Carlo Quinto jene Nasridenbauten der Alhambra, die der Bau des Kaisers absichtlich aus dem Blick des Zuschauers verbannt hat.

Doch unvermittelt zuckt um 23.29 Uhr ein Blitz durch das Himmelsrund, Regentropfen fallen. Die Musiker verschwinden guinnessbuchverdächtig schnell von der nicht überdachten Bühne (im Juli regnet es hier nicht, Punkt). Ratlosigkeit. Das Publikum sucht Zuflucht unter den Arkaden. Eine Pause wird ausgerufen, der Regen ebbt ab, und die Musiker kommen wieder. Als Isabelle Faust gerade ansetzen will, fallen wieder ein paar Tropfen. Die Musikerin ist sichtbar unschlüssig. Soll sie ihr empfindliches Instrument vor dem Regen schützen? Soll sie der Kunst den Vorzug geben? Sie entscheidet sich leicht trotzig für die Kunst und hat Glück. Erneute Umbaupause.

Geld zurück bei Unwetter?

Wetterkapriolen bei Freiluftveranstaltungen sind ein Desaster für Organisatoren und Gäste. Kommt es zum Abbruch der Veranstaltung, stellt sich die Frage nach Rückerstattungen. Die Kriterien für ein vorzeitiges Ende sind aber oft unklar. Nachfragen bei großen Konzertagenturen zeigen: Festlegen möchte sich niemand. Wer seine Festivals in diesem Jahr bereits hinter sich gebracht hat, ist für eine Stellungnahme schon gar nicht zu haben. Ein Blick in die allgemeinen Geschäftsbedingungen lohnt sich immer: Manchmal gibt es Geld zurück, oft aber auch nicht. Die Verbraucherzentrale rät, immer zuerst den Veranstalter zu kontaktieren. Schließlich ist er der Vertragspartner.

Einige legen ihre Vorgehensweise ganz offen dar. Zum Beispiel die berühmte Arena in Verona. Sollte dort ein Stück nach Vorführungsbeginn endgültig unterbrochen werden müssen, besteht kein Anrecht auf Rückerstattung der Eintrittskarte. Geschieht dies vor dem Ende des ersten Akts, besteht ein Anrecht auf den Kauf einer Karte für eine andere Aufführung zum halben Preis. Sollte ein Unwetter eine Aufführung von "Jedermann" bei den Salzburger Festspielen unterbrechen, geht es innerhalb der ersten 60 Minuten im großen Festsaal weiter. Sollte das Unwetter danach einsetzen, wird bis zur 80. Minute draußen ausgeharrt. Danach wird die Aufführung abgebrochen. Geld zurück gibt es in keinem Fall.

Einen Notfallplan haben wohl alle Veranstalter. Sollte auf diesem, zum Beispiel beim Münchner Tollwood Festival, die "dritte Stufe" erreicht werden, muss das Zelt geräumt werden. Wann dies der Fall ist, lässt sich aber laut Veranstalter nicht pauschal sagen. Denn: Sturm ist nicht gleich Sturm. Maximilian Senff

Als aber mitten in de Fallas "Sombrero" um 1.09 Uhr erneut Regentropfen fallen, fliehen die Musiker endgültig. Die Notenständer und Mikrofone werden abgebaut, das Publikum setzt unter dem bald nachlassenden Nieselregen gelassen zum Rückzug vom Alhambrahügel an. Niemand macht seiner Enttäuschung Luft, vielleicht, weil niemand wirklich enttäuscht ist. Schließlich nimmt jeder Open-Air-Besucher das Risiko eines Konzertabbruchs wegen Regen, Sturm, Gewitter in Kauf. Erst recht im Süden Europas, wo dieses Risiko gering ist. Dieses Risiko gehört mit zum Spiel. Der Mensch fordert mit seiner Kunst die unberechenbare und ihm überlegene Natur heraus. Je avancierter und raffinierter die Kunst ist, die er in seiner Hybris der Natur aussetzt, umso größer ist der Triumph, wenn in diesem Agon die Natur unterliegt. Ist es einmal anders, dann ist das auch kein Problem. Ist doch nur das Naheliegende eingetreten, wenn die Gewalt den Sieg davonträgt über das Zarte, Geistige, Menschengemachte.

Bei dem seit 1948 abgehaltenen Musikfestival in Aix-en-Provence wurde schon immer mehr unternommen, den Sieg der Natur zu verhindern, die hier oft mit heftigen Winden zuschlägt, mit dem kalten Mistral oder dem heißen Schirokko. Der Innenhof des erzbischöflichen Palasts, der traditionell wichtigste Spielort, bietet dagegen nur bedingt Schutz, auch das klobige Bühnenhaus verbessert die Situation kaum. Da kann man dann schon mal erbärmlich frierende Sängerinnen oder davonfliegende Notenblätter erleben, manchmal tönt das Gejohle von Fußballfans herein oder die Proteste der Bühnenarbeiter. Die Welt, die von der klassischen Musik so gern ausgeschlossen wird, ist bei Open Air immer unmittelbar an der Aufführung beteiligt.

Unter freiem Himmel gelten auch andere kritische Normen als in überdachten Opernhäusern

Obwohl am frühen Abend der Schirokko heftig weht und die Zikaden alles daransetzen, ihn zu übertönen, ist es um 22 Uhr totenstill. Vielleicht, weil Wolfgang Amadé Mozarts Requiem auf dem Programm steht, das der auf magische Rituale bedachte Romeo Castellucci als eine folkloristische Totenfeier inszeniert, und weil Raphaël Pychon, der Jungstar unter den französischen Dirigenten, mit seiner Sänger-Musiker-Truppe Pygmalion musiziert. Die beiden haben das Requiem gestreckt, mit Gregorianik davor und danach, mit der Meistermusik K. 477 B, dem "Miserere mei" K. 90, drei kurzen Kantaten, einem textlos gesungenen Stück. Das lockert wie im Gottesdienst die vertraute Form auf und nimmt dem Stück viel von seiner Wucht. Pychon legt es nie auf Dramatik oder Brillanz an. Der Chor und die Solisten Siobhan Stagg, Sara Mingardo, Martin Mitterrutzner, Luca Tittoto und der grandiose Kindersopranist Elias Pariente singen dunkel gramdurchwirkt. Alles ist tief innerlich empfundenes Leid.

Castellucci zeigt dazu rückläufig ein Frauenleben, das mit der Protagonistin auf dem Totenbett beginnt, dann erscheint sie in immer jüngeren Emanationen, zuletzt liegt sie als Säugling auf der Bühne. Dazu tanzen die Sänger in Foklorekostümen die Musik wie auf einem Dorffest. In der Summe ergibt das eine Synthese zwischen Lebenslust, Leid und Tod. Die edel schmerzdurchwirkten Gesichter, die in dem unter Arte/Concert im Internet kostenlos abrufbaren Livemitschnitt der Aufführung noch sehr viel besser zu sehen sind als live, das archaische Schreiten und Stampfen, die ausholenden Gesten, der naiv ausgestellte Lebenslauf einer Frau: All das ist nicht frei von Kitsch. Aber open air gelten auch andere kritische Normen als in überdachten Opernhäusern. Die Wärme, der nächtliche Himmel, das historische Ambiente und die heitere Feststimmung des Publikums tragen dazu bei, dass der Kritiker milder ist und die Kunst angesichts der übergroßen Natur etwas weniger ernst und wichtig nimmt als sonst.

Beim Heimweg durch das schlafende Aix und seine in die Renaissance zurückdatierenden Sandsteinbauten beginnen die durch Mozart eingeschüchterten Zikaden erneut mit ihrem Gegrrze und Geschrabbze. Die Welt ist wieder in Ordnung.

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