Kino:Jein zum Wagnis

Brexitannia

Das Hin und Her, die Unsicherheit und Zerrissenheit des Inselstaates verdeutlicht der Dokumentarfilm "Brexitannia".

(Foto: Filmmuseum München)

Der Brexit, sich verändernde Dörfer und individuelle Herausforderungen: Das Filmmuseum München zeigt in einer viertägigen Reihe aktuelle Arbeiten zum Thema "Experimente"

Von Bernhard Blöchl

Nach einer knappen Stunde erscheint die Gurke, ein besonders krummes Exemplar, das sich langsam über die Leinwand dreht. Klar, beim Brexit, diesem länderübergreifenden Daueraufreger, geht es um weit mehr als um die EU-Qualitätsnorm von Gemüse und Obst, das wurde in den vergangenen Tagen abermals deutlich. Doch das Symbolbild der Quertreibergurke, das den Dokumentarfilm "Brexitannia" in zwei Abschnitte teilt, zeigt prima, dass es den Briten abseits der großen Politik bei ihrer individuellen Entscheidungsfindung auch um scheinbare Kleinigkeiten ging.

Dutzende Menschen hat Timothy George Kelly vor der Kamera erzählen lassen: eine ältere Frau im Garten, einen Mann am Meer, einen Schäfer, eine Schottin, jung wie alt. Im ersten Teil die Bürger, im zweiten Teil die sogenannten Experten. Das Gesamtbild, das auf diese Weise entsteht, ist vielschichtig: Eine Frau erzählt, sie habe nach dem Ergebnis am 23. Juni 2016 geweint, eine andere holt mit ihren Vergleichen bis zum Römischen Reich aus. Angst vor Rassismus, Unentschlossenheit, "Returning The Great To Great Britain", all das kommt zur Sprache in dem ganz in Schwarz und Weiß gehaltenen Dokumentarfilm. Das Werk war 2017 das erste seiner Art, das den Austritt Großbritanniens aus der EU thematisierte. Und obwohl durch viele Diskussionen und politische Entscheidungen (vor allem der Ablehnung des Austrittsvertrags durch das britische Parlament am vergangenen Dienstag) in gewisser Weise veraltet, ist dieses Porträt dennoch ein konkretes, interessantes Mosaik eines zerrissenen Landes.

Das Filmmuseum München zeigt "Brexitannia" in seiner alljährlich fein kuratierten Reihe "Film-Welt-Wirtschaft" (Samstag, 19. Januar, 18.30 Uhr, mit englischen Untertiteln, anschließend Diskussion). Das Motto der neuen Ausgabe, die an diesem Donnerstag beginnt und dann bis Sonntag läuft, heißt "Experimente". Da geht es also um große Experimente, auf die sich ganze Länder einlassen, aber auch um Experimente von Dörfern, Gruppen oder einzelnen Menschen.

Fünf aktuelle Dokumentarfilme stehen (neben ein paar Kurzfilmen) auf dem Programm, zwei davon als München-Premiere: "One Year In Germany" (2017) von Christian Weinert stellt dem Zuschauer vier Afrikaner vor, die ein Freiwilligenjahr in Deutschland absolvieren und dabei unterschiedliche Erfahrungen machen (18. Januar, Beginn 18.30 Uhr). Der essayistische Beitrag "Near And Elsewhere" (2018) philosophiert über mögliche Utopien in unserer Gesellschaft, mixt Interviews, Gedanken und Spielszenen. Eduard Zorzenoni und Sue-Alice Okukubo begegnen darin unter anderen einer Marsforscherin und einer Soziologin (18. Januar, 21 Uhr, anschließend Diskussion). Ergänzend laufen "Das Wunder von Mals" (2018) und "Andermatt - Global Village" (2015), zwei Beispiele für Widerstand und massive Veränderungen in Dörfern in Südtirol und der Schweiz (17. Januar, von 19 Uhr an und 20. Januar, 17.30 Uhr, jeweils mit Gespräch).

Der einzige Spielfilm - ebenfalls zum ersten Mal in München zu sehen - ist mottogetreu ein Experimentalfilm. "La Mano Invisible" (2016) kreist um die Frage, was wohl passieren würde, wenn verschiedene Berufe vor Publikum ausgeübt und die Bedingungen nach und nach verschärft würden? Der spanische Regisseur David Macián lässt dazu eine Gruppe von Arbeitern, darunter ein Maurer und eine Telefonistin, an einem undefinierten Bühnenort ihre Aufgaben erledigen. Das Publikum im Film ist gnadenlos, dazwischen gibt es Interviews mit den Protagonisten, und als Zuschauer des Films fragt man sich: Was wäre, wenn auch der Kapitalismus nur ein historisches Experiment wäre?

Film-Welt-Wirtschaft, Filme & Diskussionen, Donnerstag, 17., bis Sonntag, 20. Januar, Filmmuseum München, St.-Jakobs-Platz 1

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