Jazz:Tanz den Wittgenstein

Jazzrausch Bigband

Wenn die Leute nicht zum Jazz kommen, muss der Jazz zu den Leuten: Konzert der Jazzrausch Bigband.

(Foto: Jazzrausch)

Wenn die Leute nicht zum Jazz kommen, muss der Jazz eben zu den Leuten: Eine kühne neue Mischung sorgt derzeit für Spannung in der Szene - Techno-Jazz.

Von Oliver Hochkeppel

Der Jazz hat sich durch die Globalisierung stark verändert. Die Weiterentwicklung der Musik, die ein Dreivierteljahrhundert lang fast nur aus den USA kam und im Rest der Welt meist nur nachgespielt wurde, findet seitdem weltweit statt. Sicher zwei Drittel der Produktionen, die heute unter dem Label "Jazz" laufen, hätte man vor 20 oder 30 Jahren gar nicht so genannt.

Man kann allerdings nicht behaupten, dass Deutschland bei dieser Entwicklung eine große Rolle gespielt hätte. Erst recht nicht München, dessen Jazz-Szene erst im Schatten der Frankfurter, dann der Berliner oder Kölner Szene stand. Zuletzt gehörten aber auch immer mehr deutsche Jazzmusiker zu den weltweit beachteten Innovatoren. Und die aktuellen Shooting Stars der Szene kommen - siehe da - aus München. Sie entstammen fast alle einigen herausragenden Jahrgängen des Jazzinstituts der Musikhochschule, und ihr Hebel ist eine kühne neue Mischung: Techno-Jazz.

Schlüsselfigur ist der fleißige 30-jährige Posaunist Roman Sladek, der schon als 16-Jähriger Mitglied des Landesjugendjazzorchesters war und nicht nur ein Doppelstudium in klassischer und Jazz-Posaune mit dem Musiklehrer- und dem klassischen Konzertdiplom, sondern auch ein doppeltes Aufbaustudium als Master in Jazzposaune und in Kultur- und Musikmanagement absolviert hat. Was ihm in der Berufspraxis schnell klar wurde: Wenn die Leute nicht zum Jazz kommen, dann muss der Jazz zu den Leuten: "Der Jazz-Habitus hat viel zerstört. Diese elitäre Verweigerungshaltung, das mangelnde Bewusstsein fürs Publikum. Wir Jazzer müssen in die Jetztzeit zurückfinden. Jede Musik beherrschen lernen und selbstbewusst klarmachen, dass unsere Musik kreativ das größte Potenzial hat."

Sein Medium dafür ist die Jazzrausch Bigband. In nur fünf Jahren machte Sladek aus einer Studentenband, die in einem kleinen, nur kurz existierenden Lokal in der Münchner Innenstadt (das "Rausch & Töchter", daher der Bandname) eine Auftrittsmöglichkeit fand, nicht nur ein Jazzunternehmen mit gut 40 Musikern (also einer kompletten doppelten Besetzung), sondern die aktuell wahrscheinlich erfolgreichste Bigband überhaupt.

Das "Big Harry Festival" als Schaufenster der Revolution

Gut 120 Konzerte spielt die Jazzrausch Bigband mittlerweile pro Jahr. Nicht nur als weltweit einzige "resident Bigband" eines Technoclubs (des Münchner "Harry Klein") und bei einem festen Termin im Jazzclub Unterfahrt, nahezu alle Festivals, ob Jazz, Weltmusik oder Pop, reißen sich inzwischen um sie. Im vergangenen Jahr spielte die Truppe im New Yorker Lincoln Center, als bisher erste deutsche Bigband, außerdem bei großen Festivals in Shanghai und Peking und in Ostafrika. Musikalisch ist die Band getreu Sladeks Credo eine Allzweckwaffe, die alles kann von traditionellem Swing-Programmen, Klassik-Verarbeitungen wie einem Bruckner-Programm über Hip-Hop-Soul (mit der Rapperin Fiva) bis zu avantgardistischen Suiten, die man sich von befreundeten Komponisten wie den New Yorkern Martin Sailer oder Aaron Parks schreiben lässt. Wie man hört, hat das große Independent-Label Act zugeschlagen und die Band gerade für ein Weihnachtsalbum und ein Beethoven-Projekt verpflichtet. Ihre Hits aber sind bislang natürlich die beiden Techno-Jazz-Programme "Moebius Strip" und "Dancing Wittgenstein".

Das große Format hat mittlerweile kleinere Ableger. Zum einen unterhält Sladek selbst das Sextett Slatec, das mit drei Schlagzeugern frei improvisierten Techno-Jazz spielt. Dann ist da Maximilian Hirning, ein Bassist der Jazzrausch Bigband. Als Techno-Fan hat er für LBT, das Trio des Pianisten Leo Betzl (wie Schlagzeuger Sebastian Wolfgruber ebenfalls Mitglied der Jazzrausch Bigband), ein entsprechendes Programm geschrieben, das technoide Rhythmen ins klassische Jazz-Klaviertrio-Format überführt. LBT hat damit in den vergangenen zwei Jahren fast alle wichtigen deutschen Jazzpreise gewonnen. Und als Rhythmusgruppe des Vincent Eberle Quintett gewannen die drei auch noch den Neuen Deutschen Jazzpreis. Auch Ark Noir, das Quintett des Jazzrausch-Saxofonisten Moritz Stahl, oder die Frauenband SiEA gehören zum Dunstkreis, auch wenn deren Pfade eher in den Indie-Jazz führen.

Club-Jazz-Experimente gibt es aber nicht nur in München. Das wissen Sladek und die Seinen nicht nur, sie suchen nach Gleichgesinnten. An diesem Freitag - nach einem erfolgreichen Testlauf im vergangenen Jahr - veranstalten sie das "Big Harry Festival". Eine Nacht lang spielen im Münchner Muffatwerk Bands und DJs, die im handgemachten Club-Jazz mit technoiden Rhythmen Rang und Namen haben. Neben der Jazzrausch Bigband, Slatec, LBT, Ark Noir und SiEA unter anderem die belgischen Folk-Electro-Jazzer Stavroz, die ursprünglich bei La Brass Banda wirkenden Ströme, die schon mit Björk verglichene norwegische Avantgarde-Sängerin Hanne Hukkelberg, Seth Schwarz, Bam Bam, Michael Leopold, die DJs Andreas Henneberg, Michael Reinboth, COEO oder Ace und andere mehr. Ein Schaufenster zu einer kleinen Jazz-Revolution im beschaulichen München.

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