Interview zum Braindrain:"Die Türkei ist auf dem Weg in konforme Mittelmäßigkeit"

Interview zum Braindrain: Wenn Präsident Erdoğan den Staatsapparat homogenisieren will, braucht er Menschen, die den Ansichten seines Regimes folgen. Hoch qualifizierte Akademiker fallen oft nicht darunter.

Wenn Präsident Erdoğan den Staatsapparat homogenisieren will, braucht er Menschen, die den Ansichten seines Regimes folgen. Hoch qualifizierte Akademiker fallen oft nicht darunter.

(Foto: AFP)

Was passiert mit einem Land, wenn die kritischsten und innovativsten Geister abwandern? Migrationsforscher Jochen Oltmer über den Braindrain, das türkische Bildungssystem und transnationale Opposition.

Interview von Carolin Gasteiger

Akademikerinnen, Akademiker und Intellektuelle haben es seit dem vereitelten Militärputsch in der Türkei schwer. Präsident Recep Tayyip Erdoğan verhängte Berufsverbote, es kam zu Massenentlassungen, nach Angaben des Netzwerks "Scholars at Risk" sollen im vergangenen Jahr gut 5000 Hochschullehrer entlassen worden sein. Viele, auch diejenigen, die noch arbeiten dürften, verlassen die Türkei, weil sie sich mit der Politik der Regierung nicht mehr identifizieren können. Der Migrationsforscher Jochen Oltmer von der Universität Osnabrück spürt diesen sogenannten "Braindrain" auch in seinem Alltag, weil er und seine Kollegen viel mehr Akademikerinnen und Akademiker aus der Türkei unterbringen müssen. Vor allem Stipendien würden verstärkt nachgefragt, sagt Oltmer. Was macht das mit einem Land, wenn viele innovative und kritische Geister abwandern?

Professor Oltmer, ist ein Braindrain - die Abwanderung hoch qualifizierter Kräfte - etwas Negatives für ein Land?

Professor Oltmer: An sich ist es völlig normal, dass Menschen, die hoch qualifiziert sind, in andere Länder gehen, um sich weiterzuentwickeln. Meist ist diese Abwanderung auch nur temporär. Die Leute kommen zurück und haben ihren Horizont erweitert. Im Sinne eines intellektuellen Austauschs ist das absolut notwendig und sinnvoll.

Aber?

Es darf nicht bei dem Braindrain bleiben, also bei einer einseitigen Bewegung, bei der das Potenzial verloren geht und die Menschen auswandern. Aber genau das beobachten wir gerade in der Türkei. Es findet kein Austausch statt, sondern die Menschen fliehen unter anderem vor politischer Verfolgung. Was folgt, sind Lücken in der akademischen Landschaft.

Und das bedeutet konkret?

Für die intellektuelle Vielfalt ist das fatal. Nach und nach verschwinden die kritischen Stimmen aus dem politischen Diskurs, die Gesellschaft homogenisiert sich zunehmend. Zudem fehlt es an innovativen Kräften, die Politik und Wirtschaft entscheidende Impulse geben. Ohne geistige und wirtschaftliche Innovationen endet ein Land jedoch in konformer Mittelmäßigkeit.

Recep Tayyip Erdoğan scheint das anders zu sehen. Oder schaut er nur auf seine politischen Ziele?

Für ihn scheinen zumindest akut andere Dinge relevanter: Das Gefahrenpotenzial, das von Andersdenkenden ausgeht, ist vorläufig beseitigt und das Risiko für einen möglichen Staatsumsturz gebannt.

Schadet ein Braindrain nicht auch der türkischen Regierung?

Nicht unbedingt. Wenn Erdoğan den Staatsapparat homogenisieren will, braucht er Menschen, die den Ansichten seines Regimes folgen. Insofern dürfte es ihn wenig stören, wenn Richter oder Staatsanwälte fehlen. Aber das fehlende Potenzial in Forschung und Wissenschaft wird dem Staat eher schaden. Wie gesagt: Besonders innovative Bereiche bluten dann aus. Das ist langfristig ein Problem.

Die Frage ist: Wie flexibel ist das türkische Bildungssystem?

Worauf muss sich die Türkei einstellen, wenn die wichtigsten Intellektuellen weg sind?

In den vergangenen Jahren hat die Türkei bewusst in den Bildungssektor investiert, weil das unerlässlich ist für den wirtschaftlichen Aufstieg. Wenn jetzt viele entlassen werden oder in Jobs arbeiten, für die sie überqualifiziert sind, waren diese Investitionen regelrecht verpulvert.

Wie kann sich der türkische Bildungssektor trotzdem weiterentwickeln?

Die Frage ist: Wie flexibel ist das türkische Bildungssystem? Bleiben einzelne, frei werdende Stellen vakant? Wenn Sie einen riesigen Überhang an Ingenieuren haben und ein paar Hundert davon wandern ab, haben Sie kaum Probleme, die Stellen zu besetzen. Die Qualifikationen sind ja da. Allerdings ist das in der Türkei nicht der Fall. Von daher steht zu befürchten, dass die Abwanderung und Flucht einen Verlust darstellen. Höchstwahrscheinlich bleiben die vakanten Stellen eben einfach leer.

Das war nach dem Militärputsch in der Türkei 1980 bereits der Fall. Wie hat sich das auf die Gesellschaft damals ausgewirkt?

Valide Forschungsergebnisse gibt es dazu leider nicht. Allerdings war das auch ein temporärer Braindrain, denn viele sind ja nach der Militärdiktaktur zurück in die Türkei gegangen, darunter viele politisch Aktive. Umgekehrt war das der erste Zeitpunkt, zu dem in der Bundesrepublik mehr als 100 000 Asylsuchende in einem Jahr registriert wurden - und sich daraus eine intensive Diskussion um Asyl entspann.

Die intellektuelle Elite eines Landes fühlt sich zur Flucht gezwungen. Das erinnert hierzulande an die DDR oder den Nationalsozialismus.

Von den Mechanismen her durchaus. Im Nationalsozialismus mussten ja nicht nur politische Oppositionsangehörige auswandern, sondern auch Hunderttausende Juden. Und diese 450 000 bis 600 000 Juden waren vor allem in Forschung, Wissenschaft und Handel tätig, prägten aber auch das kulturelle Leben. Aber der Braindrain traf damals nicht nur Juden, sondern auch diejenigen, die sich der Demokratie verpflichtet fühlten. Auf diese Weise verlor das Land nicht nur Albert Einstein, sondern auch Thomas Mann - die Liste an berühmten Exilanten von damals ist lang. In den Geschichtswissenschaften gab es einige, die auswandern mussten, weil sie schlicht mit modernen Methoden lehren wollten. Auch in der DDR gab es keine Abwanderung über alle gesellschaftlichen Schichten. Sie betraf vor allem jüngere, eher höher qualifizierte Menschen aus Forschung und Wissenschaft. Ärzte etwa hatten im Westen einfach die besseren Chancen. Und das wurde schon als eine Art Ausbluten empfunden bei den DDR-Oberen, denn mit dem Westen konnte die DDR irgendwann nicht mehr konkurrieren. Nicht umsonst wurde 1961 die Mauer gebaut.

Auch die Türkei verliert also den Anschluss an den Westen?

In der Türkei war die Situation lange anders. In den vergangenen Jahren wanderten nicht nur nach wie vor Türken nach Deutschland ein, sondern viele Deutsche gingen auch in die Türkei. Viele sind ja gerade während der Finanzkrise verstärkt in die Türkei gegangen, weil sie sich dort bessere Chancen ausgerechnet haben. Das nennen wir ausgeglichene Wanderungsbilanz - und das bedeutet eine nicht unerhebliche Rückwanderung sehr gut qualifizierter Menschen.

Jochen Oltmer

Jochen Oltmer, Professor für Migrationsforschung an der Universität Osnabrück

(Foto: Universität Osnabrück)

Jetzt hat sich das gewandelt.

Dieser Braindrain muss trotzdem nicht das Ende bedeuten. In vielen Bereichen basiert die Innovation auf Austausch - und der ist ja nicht auf einen bestimmten Ort beschränkt. Ob Wissenschaftler nun in Ankara oder Berlin sitzen, ist für das Ergebnis der Forschung ja nachrangig.

Diejenigen, die ins Exil gehen, verfolgen das Geschehen in ihrer Heimat in der Regel weiterhin intensiv. Formiert sich mit einem Braindrain eine starke Opposition außerhalb des Heimatlandes?

Menschen, die wegen Gewalt und politischer Unterdrückung ihr Heimatland verlassen mussten, orientieren sich weiterhin sehr stark an der Herkunftsgesellschaft. Professoren, Ärzte oder Juristen, die die Türkei verlassen mussten, werden also die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen vom Ausland aus genau beobachten. Sie versuchen häufig, in den Exilländern Netzwerke aufzubauen und die Politik der Heimatregierung zu hinterfragen, zu kritisieren. Sie wollen die Regierungen der Exilländer über ihr Schicksal informieren und positionieren sich so gegen das Regime im Heimatland. Viele Exiltürken versuchen auf diese Weise ja gerade, die Bundesregierung zum Handeln zu bewegen. Auf diese Weise bildet sich eine sehr starke transnationale Opposition. Und wenn sich daraus ein intensiver politischer Austausch entwickelt, bedeutet das im besten Fall auch einen Wandel im Herkunftsland.

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