Reclam-Verlag:"Ich glaube nicht, dass es eine vollständigere Sammlung gibt"

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Ein Verlag, der mehr als 150 Jahre existiert, ist "eine gewaltige Kulturleistung", findet der Reclam-Sammler und Initiator Hans-Jochen Marquardt. (Foto: picture alliance / dpa/Franziska)

Diese Woche eröffnet in Leipzig ein Reclam-Museum. Der Initiator Hans-Jochen Marquardt erklärt, warum so etwas der Stadt gefehlt hat - und warum er nicht aufhören kann, die kleinen Hefte zu sammeln.

Interview von Luise Checchin

Am Mittwoch dieser Woche eröffnet das weltweit erste Reclam-Museum in Leipzig. Zu sehen geben wird es eine Präsenzbibliothek mit mehr als 10 000 Bänden, eine Dauerausstellung zur Geschichte der "Universal-Bibliothek" und Raritäten wie zwei Feldbüchereien oder ein Reclam-Bücher-Automat. Hinter dem Museum steht der gemeinnützige Verein "Literarisches Museum e. V.". Sein Vorsitzender, der Germanist und Reclam-Sammler Hans-Jochen Marquardt, erklärt, was ihn an dem Verlag fasziniert und warum er glaubt, dass Reclam die Digitalisierung überleben wird.

SZ: Je nachdem, wie gerne jemand den Deutschunterricht hatte, lösen Reclam-Bücher entweder Abscheu oder Nostalgie aus. Können Sie sich an Ihr erstes Reclam-Heft erinnern?

Hans-Jochen Marquardt: Meine Situation war etwas speziell, weil mein Vater lange Jahre Leiter des DDR-Reclam-Verlags war. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es ja einen Verlag in Leipzig und einen in Stuttgart. Ich hatte also schon von klein auf eine Verbindung zu dem Thema. Aber natürlich wurde auch ich - wie wohl jeder im deutschsprachigen Raum - in der Schule damit konfrontiert. Und wenn der Deutschlehrer reinkam mit einem Stapel Hefte und sagte: "Wir lesen heute mal 'Emilia Galotti' mit verteilten Rollen", dann gab es sehr unterschiedliche Reaktionen. Entweder fiel die Kinnlade runter oder es ging ein Lächeln über das Gesicht. Bei mir war es eher Letzteres, ich liebte schon immer Literatur.

In den Zwanzigerjahren warb Reclam mit dem doch recht frechen Spruch "Reclam braucht keine Reklame".

Klar ist das ein bisschen frech. Ein Unternehmen, das damit wirbt, dass es keine Werbung braucht, hat es geschafft. Für diesen Erfolg gab es mehrere Gründe: 1867 wurden die Urheberrechte für viele Autoren frei, die 30 Jahre vorher gestorben waren. Das nutzten etliche Verlage, aber Reclam setzte sich dabei durch. Das lag an Neuerungen in der Drucktechnik, aber auch an Reclams Idee der "Universalbibliothek". Damit konnte sich plötzlich jeder für wenig Geld eine kleine Bibliothek zusammenstellen. Und zwar musste man nicht, wie damals üblich, eine ganze Buchreihe erwerben, sondern durfte einzelne Bände kaufen. So stillte man den Bildungshunger der Arbeiterklasse.

Könnte man im Internetzeitalter, in dem Wissen umsonst zur Verfügung steht, nicht meinen: Reclam ist überflüssig?

Loriot hat mal gesagt, ein Leben ohne Mops ist möglich, aber sinnlos. So ähnlich ist es mit Reclams Universal-Bibliothek. Natürlich kann man auch ohne diese Buchreihe Literatur studieren. Aber ich würde es niemandem raten. Gerade für den Einstieg ist die Reihe wahnsinnig wichtig, weil Reclam Wert darauf legt, auch Texte, die man zigtausend Mal gedruckt hat, wie etwa Goethes "Faust", immer wieder kritisch zu überprüfen, zu kommentieren und die Textgestalt zu hinterfragen. Reclam hat eine Geschichte, die mehr als 150 Jahre währt. Das ist eine gewaltige Kulturleistung, die da vollbracht worden ist. Das gibt es so nirgendwo in der Welt.

Wenn der Verlag noch so lebendig ist, warum braucht es dann überhaupt ein Reclam-Museum?

Reclam wurde ja einst in Leipzig gegründet, aber 2006 hat der Verlag die Stadt endgültig verlassen und ist seitdem nur noch in Ditzingen bei Stuttgart ansässig. Das riesige Verlagsgebäude, das Reclam von der Treuhand zugesprochen bekommen hatte, wurde saniert und dann verkauft. Auch sonst ist fast keiner der großen Verlage, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus Leipzig weggezogen waren, nach der Wende zurückgekehrt. Für die Buchstadt Leipzig war das natürlich bitter. Bei dem Museum geht es nun einfach darum, dass Reclam nicht aus dem kulturellen Gedächtnis der Leipziger verschwindet.

Die meisten Bände im Museum kommen aus Ihrem Privatbesitz.

Nein, alle.

Alle?

Ja, wobei das auch nur ein Teil meiner privaten Sammlung ist. Ich habe etwa mit 14 Jahren mit dem Sammeln angefangen.

Wie kommt ein 14-Jähriger darauf, Reclam-Bände zu sammeln?

Da mein Vater den Verlag in der DDR geleitet hat, hat er mir auch ab und zu einen Band geschenkt. Ich hab mich früh schon mit der Geschichte des Verlags beschäftigt und mich hat das Konzept fasziniert: Möglichst vielen Menschen Literatur zu einem kleinen Preis anzubieten. Später bin ich Germanist geworden, da hat sich das Interesse natürlich noch vertieft. Und irgendwann kam dann auch die Idee hinzu, dass ich der Stadt Leipzig gerne einmal die Sammlung schenken würde. Denn die Universal-Bibliothek ist hier nicht auch nur halbwegs vorhanden. Von den Büchern, die zwischen 1867 und 1945 erschienen sind - das sind 7610 Nummern in knapp 6000 Bänden - fehlen mir zum Beispiel nur 23 Titel. Ich glaube nicht, dass es irgendwo eine vollständigere Sammlung gibt.

Hatten Sie dieses Ziel der möglichst vollständigen Sammlung tatsächlich schon mit 14?

Nein, das kam nach und nach. Wobei ich schon mit 14 oder 15 einmal in einem Antiquariat so vertieft in die Bücher war, dass ich aus Versehen vom Eigentümer über Nacht eingeschlossen wurde.

Was macht man in so einem Fall - einfach weiterlesen?

Ja, klar. Und versuchen, zwischendurch ein bisschen zu schlafen. Meine arme Mutter hat sich aber natürlich Sorgen um mich gemacht.

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