Holocaust-Gedenken:"Wärt ihr desertiert?"

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Yad Vashem: Das Mahnmal für die Deportierten erinnert an Millionen, die mit Viehwaggons in die Lager transportiert wurden. (Foto: mauritius images)
  • Bedient Kunst sich frei an historischen Stoffen, stellt sich vor allem die Frage nach dem "Wozu?": Wem dient diese Darstellung der Geschichte? Welche Erkenntnisse schafft sie?
  • Yishai Sarids großartiger Roman "Monster" erinnert daran, dass der Widerspruch zwischen Abstraktion und Genauigkeit von Anfang an zum Umgang mit der Schoah gehört hat.
  • Und er weckt die sehr große Frage: Was hätte mich daran gehindert, mich schuldig zu machen?

Von Marie Schmidt

In letzter Zeit hat es wieder viel Streit gegeben um die Darstellung historischer Wirklichkeit in Romanen und Schriftstellerreden. Immer wenn in dieser Sache gezankt wird, scheint man sich die Literaturkritik als Gouvernante zu wünschen. Nur so ist es zu verstehen, dass missratene Bücher, Filme, überhaupt Kunstwerke gegen Einwände oft verteidigt werden wie vor einer strengen Erzieherin, nämlich mit dem Argument, die Kunst müsse doch alles Mögliche "dürfen".

Damit endet die Auseinandersetzung gewöhnlich, weil niemand sich zur Instanz machen möchte, die ästhetische Freiheiten zu erlauben oder zu verbieten hätte. Von welchem autoritativen Standpunkt auch? Fragen, die dann übrig bleiben, gerade wenn sich Kunst frei an historischen Stoffen bedient, betreffen eher das "Wozu?": Wem dient diese Darstellung der Geschichte? Welche Erkenntnisse schafft sie, welchem Verhältnis zum Gewesenen leistet sie Vorschub? Was will diese Kunst oder jene Ansprache von mir, wie soll ich mich zur Vergangenheit verhalten?

Die Antworten darauf können nicht klüger ausfallen, als sie in den betreffenden Werken angelegt sind. Deshalb stellen solche Fragen durchaus moralische Ansprüche an die Kunstwerke selber. Sie fallen besonders gewichtig aus, wenn ein Roman mit dem Menschheitsverbrechen umgeht, der Vernichtung der europäischen Juden durch die Deutschen. Wenn es demnächst für dieses Ereignis keine Augenzeugen mehr gibt, schwächen sich die moralischen Ansprüche an seine Darstellung aber nicht ab, wie manche schon meinen, sie werden offenbar eher schärfer. Man kann diese Ansprüche mithilfe eines Romans formulieren, der sie eben wirklich selbst aufstellt: der beeindruckende dritte Roman des israelischen Rechtsanwalts und Journalisten Yishai Sarid.

Ein junger israelischer Historiker sammelt immer neue Details über den Verwaltungsmassenmord

Er heißt "Monster" und hat die Form eines Briefes an eine schattenhafte Figur im Hintergrund. Sie funktioniert wie ein Vater oder Richter, vor dem ein Geständnis abzulegen wäre: "Sehr geehrter Herr Direktor von Yad Vashem, dies hier ist der Bericht über das, was dort vorgefallen ist." Hier hat sich wohl einer etwas zuschulden kommen lassen: ein junger israelischer Historiker, der - mangels besserer Möglichkeiten, wie er betont - Experte für das Lagersystem der Nazis geworden ist. Er scheint keine Vorfahren zu haben, die in Europa umgekommen sind, fliegt aber, um Geld zu verdienen für seine Frau und einen kleinen Sohn, regelmäßig nach Polen. Da arbeitet er als Guide in den Gedenkstätten in Auschwitz, Majdanek, Sobibor.

Während der Erzähler also im Rahmen seiner Doktorarbeit "Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Arbeitsmethoden deutscher Vernichtungslager im Zweiten Weltkrieg" immer mehr Details sammelt und die grässliche Logik des Verwaltungsmassenmords studiert, sieht er an den Besuchergruppen, wie die Erinnerung an die Schoah zur abstrakten Angelegenheit wird. Sarid parallelisiert da die Abstraktheit des Vernichtungssystems mit der Routiniertheit des Gedenkens, und in diesem Vergleich besteht das Monströse, das der Titel ansagt.

In aller Sachlichkeit des Berichts an einen Vorgesetzten schildert der Erzähler, wie er an diesem Verhältnis leidet, und wie er sich deshalb nur umso rückhaltloser vor Augen führt, was geschehen konnte. Bis er die Vergangenheit an der Rampe von Auschwitz lebendig vor sich hat: "Ich versuchte zu hören, was sie sagten. ... Wo sind meine Frau und das Kind. Steh gerade, hier fragt man nicht, wer seid ihr, wie lange seid ihr da. Wann bekommt das Kind was zu trinken." Er denkt sich dermaßen in das Lagersystem hinein und in seine Aufgabe, es zu erklären, "als wäre die Aktion in vollem Gang und ich sei mitverantwortlich für ihre Planung und Durchführung und für die Einhaltung der Zeitvorgaben".

Dass Yishai Sarid in diesem Roman keinen Auschwitz-Überlebenden oder Lagerkommandanten sprechen lässt, sondern einen Nachgeborenen, nimmt dem, was er über die Vernichtung sagt, nichts von seinem Grauen. Es besteht gerade darin, dass man durch den Guide und Erzähler vermittelt sieht: Man kann wissen, wie viele Millionen getötet worden sind, mit welch technischem Plan. Und man kann die Leidenswege Einzelner kennen, sie sind dokumentiert. Nur beides geht nicht ins selbe Bild, das millionenfach individuelle Sterben ist undarstellbar. Was grässlicherweise dem ideologischen Kalkül der Nazis entspricht. Einer der moralischen Ansprüche, die sich an Romane über die Schoah deshalb stellen, ist, dass sie dieses Dilemma nicht verflachen. Sarids Erzählung reißt den Widerspruch neu auf. Die Stimme eines "treuen und fleißigen Agenten der Erinnerung" ist eine redliche Form dafür, weil sie die Perspektive nicht künstlich begrenzt.

Das Töten wurde zum Bestandteil einer "Neuen Ordnung", zur Normalität

Der Roman "Monster" erinnert deshalb auch daran, dass der Widerspruch zwischen Abstraktion und Genauigkeit von Anfang an zum Umgang mit der Schoah gehört hat. Das Bedürfnis, en gros zu verstehen, was geschehen ist und zu formulieren, was es bedeutet, war nie vermittelbar mit der Sorgfalt gegenüber den historischen Einzelheiten individueller Lebensgeschichten.

Das ist nicht erst ein moralisches Problem, seit die Zeitzeugen weniger werden. Im Grunde hat es sich zum Beispiel im Streit um Hannah Arendts "Eichmann in Jerusalem" schon gestellt. Arendt ist für dieses Buch im New Yorker Intellektuellenmilieu, in dem sie lebte, schwer kritisiert worden. Man fragte sich, was ihre Erkenntnis bedeuten sollte, dass der Massenmord banalisiert worden war, als er in industriellem Maßstab geplant und eine ganze Gesellschaft zu Mittätern gemacht wurde. War das Sterben der Opfer deswegen Schicksal? Rechtfertigt es die Täter, die Mitläufer? In der Überzeugung, dass man das nur im Einzelfall begreifen kann, füllte die Oral History ihre Archive mit Zeitzeugenberichten. Hannah Arendt hat später darauf beharrt, dass der Schrecken der NS-Diktatur gerade darin bestand, das Töten zum Bestandteil einer "Neuen Ordnung", zur Normalität gemacht zu haben. Was die Untertanen dieser Ordnung ihrer "persönlichen Verantwortung" aber nicht entschlug, wie sie weiter schrieb.

Am Ende steht ohne Zweifel fest: Eine gemeinsame Erinnerung kann es nicht geben

Auch dieses Dilemma lässt Yishai Sarid seinen Protagonisten durchmachen. Einmal fragt er eine Gruppe israelischer Soldaten, die er durch eine Gedenkstätte führt: "Hättet ihr damals im Militär gedient, sagen wir in der Panzergruppe oder bei der Flugzeugwartung oder bei der Adjutantur oder im Funkaufklärungsbunker, und eure geliebte Heimat hätte sich im Krieg mit Feinden an allen Fronten befunden - wärt ihr dann desertiert, wenn ihr erfahren hättet, dass irgendwo weit weg, im Osten, schmutzige Arbeit getan wird?" Ein paar Schüler hört er "in Majdanek auf dem wenige Hundert Meter langen Weg von den Gaskammern zu Mausoleum und Krematorium" einander zuflüstern: "Araber, so müsste man es mit den Arabern machen".

Man kann das als deutsche Leserin nicht leichtfertig lesen, und Sarid schreibt dann auch, dass es die Deutschen waren, die diese Logik verursacht haben. Seinen Erzähler machen die Trauerrituale der israelischen Besucher in den Konzentrationslagern nervös, die keinen Groll gegen die Deutschen hegen, "als sei das alles ein Beschluss des Himmels gewesen". Man liest das auf Deutsch mit dem Gedanken daran, wie lange sich auch hier um die Tätererinnerung herumgedrückt worden ist. Und jetzt geht es ja schon wieder los, dass manche sich wegen historischen Abstands davon distanzieren wollen. Götz Aly hat in seiner Rede zum Holocaust-Gedenktag vor dem Thüringer Landtag angemahnt, dass das nicht möglich ist. Er las aus den Briefen eines Wehrmachtssoldaten vor und sagte: "Wir sollten auch seiner gedenken, allerdings mit Schaudern vor den menschlichen Abgründen, mit dem selbstkritischen und demütigen Wissen, wie schnell Menschen verrohen und das scheinbar feste Korsett bürgerlicher Kultiviertheit abschütteln können. Auch Werner Viehweg war einer von uns."

Sarids Erzähler richtet seine Frage "Was hättet ihr getan?" nun aber an israelische Landsleute. Womöglich geht es dabei weniger um eine Grenzüberschreitung, als um die allgemein existenzielle Überlegung, wie man sich als Einzelner zu den Systemen, Regierungen, Betrieben, Ideologien verhält, in denen man immer feststeckt und von denen man abhängt. Den Nachkommen der deutschen Täter stellt sich diese Frage in besonderer Weise - und wenn man sie noch so oft für veraltet erklärt ("waren ja andere Zeiten"), oder nach Art der Generation Aufmerksamkeitsdefizit bis zur Verantwortungslosigkeit vereinfacht ("Es gibt Schuld", Takis Würger) oder grell verkehrt in Reden von "Monumentalisierung der Schande" (Martin Walser) und "Schuldkult" (Alice Weidel, unter anderen). Die Frage heißt: Was hätte mich daran gehindert, mich schuldig zu machen? Man darf hoffen, dass da etwas gewesen wäre, man muss wissen: eher nichts.

Diese Einsicht nicht zu verharmlosen ist der moralische Anspruch, den Yishai Sarid stellt. Zumal er ihn bis zu einem letzten Problem durchdenkt. Schon Hannah Arendt hat man die Bemerkung in "Eichmann in Jerusalem" am übelsten genommen, dass, wenn nicht Judenräte mit den Deutschen kollaboriert hätten, "es Chaos und viel Elend gegeben" hätte, aber nicht diese "Gesamtzahl der Opfer". Der Erzähler wiederholt etwas ähnliches und erklärt den Gedenktouristen: "Der animalische Drang, um jeden Preis zu überleben, und die Kapitulation des Menschen vor hemmungsloser Gewalt hielten die Maschinerie am Laufen und lagen dem deutschen System zugrunde. Ich hätte ebenso gehandelt, sagte ich ihnen". Dass die Nazis sogar ihre Opfer in ihre Verbrechen einbezogen haben, es erzwungen haben, dass sie sich noch mitschuldig machen sollten, ist ein Aspekt des Dritten Reiches, der bei aller Gedenkroutine bis heute schwer repräsentierbar ist. Man kann es deswegen eigentlich nur so referieren, wie Sarids Erzähler. Ein essayistischer Roman ist dafür die einzig erträgliche Form. Als Geschehen, in das man sich hineinzuversetzen hätte, könnte es nur geschmacklos sein.

Nun dient alles Erklären in der Fiktion des Romans "Monster" der Rechtfertigung gegenüber dem Direktor der Gedenkstätte Yad Vashem für einen Vorfall, der sich ganz am Ende von "Monster" ereignet. Er soll hier nicht näher beschrieben werden, nur dass ein deutscher Regisseur eine Rolle dabei spielt, "groß gewachsen, mit markanten und sensiblen Gesichtszügen". Und dass dieses Ende an einem keinen Zweifel lässt: Eine gemeinsame Erinnerung an die Schoah gibt es nicht. Zwischen Opfererinnerung und Tätererinnerung kann man nicht tauschen.

Yishai Sarid: Monster. Roman. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Kein & Aber Verlag, Zürich 2019. 176 Seiten, 19 Euro.

© SZ vom 04.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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