Gefangen im eigenen Körper:Der Künstler und sein Arzt

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Jörg Immendorff und Thomas Meyer verbindet die tödliche Nervenkrankheit ALS. Der eine leidet daran, der andere kämpft dagegen.

Jan Brandt

Die Malerhände sind dick und schwer geworden, zu schwer, um einen Pinsel zu halten. Ruhig, wie festgeklebt, liegen sie auf den Oberschenkeln, zwei kaputte Werkzeuge, nacheinander außer Funktion gesetzt. Und doch malt Jörg Immendorff weiter, an mehreren Bildern gleichzeitig. Er malt ohne Hände, als könne ihm die Krankheit, die seine Muskeln lähmt, nichts anhaben. Er malt um sein Leben, gegen die Zeit, die ihm bleibt.

Jörg Immendorff, begleitet von Frau Oda, bei der Medien-Präsentation seiner Austellung "Male Lago - Unsichtbarer Beitrag" im September 2005 (Foto: Foto: Reuters)

Immendorff - geboren 1945 in Blekede, bei Lüneburg, Sohn eines Soldaten und einer Sekretärin, Schüler von Joseph Beuys, Boxer, Kunstrebell und Kokainist, Hauptschullehrer, Professor und Vater einer fünfjährigen Tochter - ist ein Mann mit weißem Haar und weißem Bart. Aus seinem Hals ragt ein Plastikstutzen für das Beatmungsgerät, an dem er nachts und nachmittags, wenn er im Bett liegt, angeschlossen wird.

Aber jetzt sitzt er in seinem Atelier, einem hohen, hellen Raum im zweiten Stock einer ehemaligen Fadenfabrik unweit des Düsseldorfer Hauptbahnhofes. Er sitzt im Rollstuhl wie in einem mobilen Kommandosessel und dirigiert von dort aus sieben Assistenten, gibt ihnen Anweisungen, wie die Zeichnungen, die sie gemeinsam auf dem Computerbildschirm entwerfen, auf die Leinwände zu übertragen sind.

Vierzehn Hände, die seinen Willen ausführen und die er, weil sie eigenwillig sind, mit Worten bändigen muss. Fast scheint es, als habe er seine Entwicklung vorausgeahnt oder als sei diese Art zu malen die logische Konsequenz seiner selbstkritischen künstlerischen Arbeit.

Am Anfang seiner Karriere, 1966, überschrieb er ein Bild mit dem Titel "Hört auf zu malen". Und fast zwanzig Jahre später, Mitte der achtziger Jahre, tauchten plötzlich schwarze Affen als Doppelgänger in seinen Werken auf, fremde Wesen, die alles nach- und übermalen - und nun sein Atelier bevölkern.

"Das Positive ist, dass meine persönlichen Befindlichkeiten keine Rolle mehr spielen", sagt er, bevor ihm eine Assistentin eine Zigarette in den Mund steckt und Feuer gibt, bevor er ein- und wieder ausatmet, den Rauch ausstößt und weiter spricht mit dieser gedämpften, monotonen Stimme: "Sollte ich gesund werden, was ja eine Option ist, wenn auch eine geringe, würde ich diese Methode gar nicht wechseln wollen. Aber fest steht, ich bin krank. Das ist nichts Sensationelles. Man muss sich dazu verhalten. Ohne Kampf geht das nicht. Das ist auch klar. Gewisse autonome Dinge wie duschen, um den Block gehen, die ich fürchterlich vermisse, die hab ich nicht mehr."

Gefangen im Körper

Im Sommer 1997, während des Urlaubs auf Fuerteventura mit seiner 34 Jahre jüngeren späteren Ehefrau Oda Jaune, spürte er zum ersten Mal, dass etwas nicht stimmte: Immer wieder entglitt ihm der Stift, als er mit der linken Hand Skizzen machte.

Zurück in Deutschland ging er erst zum Hausarzt, dann zu einem Neurologen. Der sagte, es handele sich um eine seltene, tödliche Krankheit, ALS, gab ihm noch zwei Jahre, drückte ihm Tabletten, die kaum helfen, in die Hand, und entließ ihn, ohne ihn richtig untersucht zu haben.

ALS ist die Abkürzung für Amyotrophe Lateralsklerose, der unaufhaltsame teilweise Untergang des zentralen Nervensystems. Die Zellen, die im Gehirn und Rückenmark die Muskeln steuern, sterben ab. Warum, weiß niemand. Das Besondere an ALS ist, dass das Denkvermögen nicht beeinträchtigt wird und die Auswirkungen tomografisch nicht zu erkennen sind - im Gegensatz zu den meisten anderen neurologischen Erkrankungen.

Je nach Art und Verlauf der ALS verkümmert irgendwann die Arm- und Beinmuskulatur, die Zunge, der Kehlkopf, das Zwerchfell. Der Körper schläft tief und fest. Aber der Verstand bleibt hellwach.

So wie bei Mao, bei Schostakowitsch, beim polnischen Fußballprofi Krzysztof Nowak, beim Physiker Stephen Hawking. So wie bei 60000 Menschen weltweit, davon 6000 in Deutschland. Zu wenig, um eine umfassende wissenschaftliche Untersuchung finanziell zu unterstützen, egal ob für Pharmakonzerne, die Deutsche Forschungsgemeinschaft oder das Forschungsministerium.

Trotz Atemnot der Zigarette treu geblieben - Künstler Immendorff. (Foto: Foto: dpa)

Immendorff kann nicht warten, bis irgendeine Institution für ihn einspringt. Deshalb war er bei einem Wunderheiler im brasilianischen Dschungel. Deshalb ließ er sich in Peking Zellen abgetriebener Föten ins Hirn spritzen. Und deshalb fuhr er im Herbst 2002 nach Berlin, zu Thomas Meyer, einem der wenigen deutschen ALS-Experten, und gründete mit ihm im Januar 2004 eine Stiftung zur Erforschung der ALS an der Charité.

An Meyer schätzt er neben dessen Fachkompetenz die "Radikalität der Offenheit" und die "Schlichtheit des Auftretens". Ihm, sagt er, vertraue er bedingungslos.

Dichter und Neurologe

Thomas Meyer war es, der die erste Einschätzung, dass Immendorff an ALS erkrankt sei, belegen konnte. Er war es, der ihm am 23. Dezember 2005 - nachdem er wegen Atemnot ins Krankenhaus eingeliefert worden war - dazu geraten hat, sich beatmen zu lassen. Ihn wird Immendorff fragen, wenn er genug hat und die Maschine abgeschaltet werden soll.

Meyer, geboren 1967 in Ostberlin, Sohn eines Phonetikers und einer Übersetzerin, ist Dichter und Neurologe, Leiter der ALS-Ambulanz, Oberarzt der Station 7 B an der Charité, Vater einer siebenjährigen Tochter. Sein Büro mit der Nummer 0.1194 ist schlicht: zwei Stühle, eine Liege, ein Rollschrank, ein Schreibtisch. An dem sitzt er im weißen Kittel, vornüber gebeugt, ein Mikrofon in der Hand, und spricht ein Diktat: "Keine Sensibilitätsstörung. Keine autonome Störung."

Das Handy klingelt. Die Tür geht auf. Die Sekretärin braucht eine Unterschrift, ein Kollege einen Rat. So vergeht der Tag: Bereitschaftsdienst für die Notaufnahme, Visite auf Station 7 B und C, Sprechstunde für ALS-Patienten. Ein 40-jähriger Mann kommt herein, auf eine Krücke gestützt. Er war mal Weltmeister im Formationstanz. Von seinem rechten Bein nimmt er eine Schiene ab, zieht Hemd und Hose aus, legt sich auf die Liege. Er will wissen, wie lange er die Arme, die Hände, die Meyer abtastet und mit einem Reflexhammer abklopft, noch benutzen kann. "Lange", sagt Meyer, "länger als drei Jahre. Aber die Erkrankung wird fortschreiten."

20 Minuten später schiebt eine Frau ihren 53-jährigen Mann im Rollstuhl in den Raum. Vor einem Jahr arbeitete er noch als Apotheker. Jetzt ist er, bis auf die Augen, vollständig gelähmt.

"Wenn Sie mit diesem Zustand nicht zufrieden sind", sagt Thomas Meyer zu ihm, "haben Sie das Recht, die Beatmung beenden zu lassen."

Mehr Drive als andere

"Wir planen auf Jahre", sagt die Frau schnell, als könne sie diesen Gedanken ausgesprochen nicht ertragen.

"Sie sollten wissen, dass passive Sterbehilfe juristisch folgenlos ist. Ich will damit nichts anschieben. Es ist meine Verpflichtung, Ihnen das zu sagen."

In Deutschland gibt es nur sieben Ärzte, die sich so intensiv mit ALS beschäftigen wie Meyer. Und er ist die Instanz, wenn es um die richtige Diagnose, die richtige Therapie geht, um Studien und Experimente. Seit seinem Studium ist er der Ursache für ALS auf der Spur.

Eine Testreihe kostet allerdings drei Millionen Euro. Und es dauert lange, bis er das Geld durch Sponsoren und Spender wie Immendorff aufgebracht hat. Bisher ist keine Pille dabei herausgekommen, nur ein paar Hypothesen -und die bemerkenswerte Feststellung, dass unter seinen Patienten auffällig viele Akademiker, Sportler und Künstler sind, gebildete, begabte, gut verdienende rastlose Menschen, getrieben von ihren Visionen und Ängsten, unfähig, eine Pause einzulegen.

"Das sind Leute, die ständig das motorische System benutzen und aktiv sind", sagt Meyer. "Leute, die mehr Drive haben als andere." Womöglich zuviel. Wie ist das? Wie fühlt sich das an, im eigenen Körper gefangen zu sein? Sich nicht bewegen zu können? Langsam zu erstarren? Wie wenn man erfriert und bei Bewusstsein bleibt?

In einem Berliner Kleinverlag veröffentlichte Meyer 1998 den Lyrikband "deutsche am pol", 21 erschreckend prägnante Gedichte über seine Wehrdienstzeit bei der Nationalen Volksarmee und das Sterben, kurze kühle Texte, in denen der ,"kältekern wächst" und Land und Menschen Wort für Wort von Schnee und Eis überrascht werden, bis alles zum Stillstand kommt.

Und im Nachhinein erscheinen manche Zeilen wie passende Bilder für das medizinisch Unerklärbare: "die motoren verenden am anfang / die atemsäule bricht über die deutschen / die versteifen vorm begreifen."

Es ist seine einzige literarische Buchveröffentlichung bisher und wird wohl auch seine einzige bleiben. Weil ihm die Zeit fehlt, der Abstand vom Alltag, der Poesie erst entstehen lässt. Er hat sich für die Medizin entschieden - aber nicht gegen die Kunst, auch wenn er selbst nicht mehr als Dichter in Erscheinung tritt. Er nutzt jetzt die Kontakte zu Künstlern, um mit spektakulären Aktionen auf ALS aufmerksam zu machen und so die Forschung zu fördern.

Zurück zu den Bildern

Eine gelähmte Patientin von ihm projizierte in Christoph Schlingensiefs Stück "Kunst und Gemüse, A. Hipler" mit ihren Augen und einem Sprachcomputer Botschaften an die Wand der Berliner Volksbühne.

Er beriet die Schauspielerin Veronica Ferres bei ihrer Rolle als ALS-Patientin in dem ZDF-Film "Sterne leuchten auch am Tag". Und er war dabei, als Immendorff in seinem Atelier bei einer Privatauktion eigene Bilder und Werke von Yoko Ono, Jonathan Meese und Katharina Sieverding für 520000 Euro versteigerte.

Alle vier, fünf Wochen fliegt er nach Düsseldorf. Er sieht Immendorff öfter als jeden anderen Patienten, weil sie nicht nur über ALS sprechen, sondern auch über Pläne, Projekte, Initiativen.

Hier im Atelier, fern von der Charité, inmitten von Bildern und Skulpturen, trägt Meyer ein schwarzes Hemd und ein graues Jackett. Er wirkt wie ein Freund, der einen Freund besucht und sich nach dessen Befinden erkundigt, danach, warum Immendorff bei der Verleihung des Goslarer Kaiserringes - einem der bedeutendsten Kunstpreise - am 7. Oktober nicht anwesend sein konnte.

"Ich hatte eine angehende Lungenentzündung, und die musste ich auskurieren. Ich war zwei Wochen im Bett. Ich wollte mich keinen zusätzlichen Risiken aussetzen."

"Sonst hätten Sie teilgenommen?"

"Ich weiß es nicht. Weil ich ja mit einem Tross reisen muss, mit dem Beatmungsteam, weil jetzt die Absaugerei dazukommt und das ganze Prozedere mit der Toilette. Das sind banale Dinge, die so ein Unternehmen nicht verschönern, deshalb bin ich eher geneigt, das nicht zu tun."

Sie sprechen über das Leben und den Tod, darüber, dass man gerade ein Protein, TDP-43, entdeckt hat, das an der Entstehung der ALS beteiligt ist, und dass es Jahrzehnte dauern kann, bis ein Heilmittel gefunden sein wird. Und dann, am Ende der Stunde, gegen Mittag, sprechen sie über zukünftige Aktionen.

"Im November findet ein Benefizkonzert statt", sagt Meyer, "im Museum Wiesbaden wird ein renommiertes Streichquartett auftreten, zu unseren Gunsten, und jetzt hatte ich die Idee, dass man Veronica Ferres bittet, mit dahin zu kommen. Die Frage ist, ob das sinnvoll ist aus Ihrer Sicht?"

Reglos sitzt Immendorff da, hört zu, dreht den Kopf nach rechts, bis eine Assistentin ihm eine Zigarette in den Mund steckt. Er nimmt einen Zug, bläst den Rauch aus, antwortet: "Veronica Ferres ist eine meiner loyalsten Freundinnen, ich möchte ihre Zeit nicht über Gebühr in Anspruch nehmen."

Es klingt, als wolle er weitere Fragen abwehren, als habe er schon genug geredet, vor allem über seine Krankheit, als müsse er sich endlich wieder dem Wesentlichen, dem Malen, zuwenden. Meyer sagt "okay", steht auf und verabschiedet sich. Und die Assistentin schiebt Immendorff wieder an den Arbeitstisch, den noch unsichtbaren Bildern zu.

© SZ vom 13. 11. 2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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