Französische Literatur:Expedition in die tierische Menschheit

Vom Staat verboten, von den Intellektuellen Frankreichs gefeiert: Pierre Guyotats Roman "Eden, Eden, Eden" von 1970 erscheint nun erstmals auf Deutsch.

Von Ina Hartwig

Das nennt man wohl eine Sternstunde der Republik. Da schreibt einer derart provokant und obszön über den Kolonialismus in Algerien, den er sich nur als sexuelle Ausbeutung vorstellen kann, dass sein Buch auf dem Index landet. Die Intellektuellen protestieren gegen die Maßnahme der konservativen Regierung und unterzeichnen eine Petition, die sich wie das schönste Gedicht liest, bestehend aus den klingendsten Namen: Jérôme Lindon, Michel Foucault, Simone de Beauvoir, Maurice Blanchot, Pierre Boulez, Max Ernst, Jacques Derrida, Nathalie Sarraute, Jean Genet, Marguerite Duras, Claude Simon, sogar Joseph Beuys ist dabei.

Jeder kennt die legendären Gerichtsurteile gegen Baudelaires "Blumen des Bösen" und Flauberts "Madame Bovary", was der Angelegenheit einen pathetischen historischen Hallraum verleiht. 1200 Künstler schließen sich mit ihrer Unterschrift dem Aufruf an; im Parlament fordert François Mitterrand die sofortige Aufhebung des Verbots.

Ach ja, fast hätte man den Anlass des edlen Engagements vergessen: den Roman "Eden, Eden, Eden" von Pierre Guyotat. Der Autor war zum Zeitpunkt des Erscheinens, 1970, erst dreißig Jahre alt. Und schon bemühten sich Berühmtheiten um die Deutung seines Werks! Denn nicht erst im Zuge des Verbots wurden sie wachgerüttelt, nein, bereits der bei Gallimard erschienene Roman war ausgestattet mit Vorworten von - man halte den Atem an - Michel Leiris, Roland Barthes und Philippe Sollers. Über vierzig Jahre nach der Erstausgabe liegt jetzt die deutsche Übersetzung durch Holger Fock im Zürcher Diaphanes-Verlag vor. Guyotat im deutschen Sprachraum? Ohne Frage ein Wagnis, immer noch.

Tatsächlich ist "Eden, Eden, Eden" so ziemlich das Härteste, was auf dem Gebiet der Prosa überhaupt möglich ist, formal wie inhaltlich. Der Übersetzer muss mit einer geradezu mimetischen Besessenheit gearbeitet haben, die Bewunderung verdient. Ohne dem Leser auch nur eine winzige Pause zu gewähren durch Punkte, Absätze oder Kapitel, besteht der Roman aus einem einzigen, pulsierenden Textfluss, rhythmisiert allein durch Semikola und Schrägstriche, von nichts anderem handelnd als von körperlicher Schändung, von geschlechtlichen Vereinigungen in allen Varianten, von Exkrementen, Blut, Sperma, Gestank, von Verwundungen, Tötungen, Folter, Leichenschändung, und das alles vor dem Hintergrund einer auf Dauer gestellten Lust. Auf Zitate wird ausnahmsweise verzichtet.

Es heißt, durch das Schreiben sei Guyotat vom Stottern der Kindheit geheilt worden

"Eden, Eden, Eden", allein die dreifache Nennung kommt einem Geniestreich gleich, folgt klar erkennbar dem Muster der Orgie. Philippe Sollers stellt denn auch seinem Nachwort ein Zitat des Marquis de Sade von 1783 als Motto voran: "nichts ist schöner, nichts ist größer als die Sexualität, und außerhalb der Sexualität gibt es keine Seligkeit." Interessant an Guyotats Buch, und das macht die Lektüre heute fast schon wieder notwendig, ist jedoch weniger, dass es an die große französische Tradition der Überschreitung anknüpft; das ist mehr als evident. Interessant ist etwas anderes, nämlich die durch konkrete Anschauung entwickelte Hypothese, die da lautet, dass sich "gerade durch die Sexualität die Dritte Welt zu erkennen gibt".

Französische Literatur: Pierre Guyotat im Frühjahr 1967 auf einer Reise durch Algerien bei Hassi-Messaoud, wo sich in den Randzonen Bordelle für die Arbeiter der Ölindustrie befanden.

Pierre Guyotat im Frühjahr 1967 auf einer Reise durch Algerien bei Hassi-Messaoud, wo sich in den Randzonen Bordelle für die Arbeiter der Ölindustrie befanden.

(Foto: Bibliothèque nationale de France)

Pierre Guyotat entstammt keineswegs dem Pariser Serail. Er wurde 1940 in der Auvergne geboren, seine Familie war in der Résistance aktiv, ein Onkel ist 1944 im Konzentrationslager Sachsenhausen umgekommen. Das Schreiben soll Pierre vom Stottern geheilt haben; wobei man durchaus der Meinung sein kann, dass sich in seiner Literatur der ursprüngliche Sprechfehlers widerspiegele: Dieses Immerweiter, nicht Innehalten, um ja nicht ins Stolpern zu kommen - seine Prosa hat etwas Panisches. Als Siebenjähriger wird er von einer Gruppe Jugendlicher vergewaltigt, auch darüber hat er geschrieben. Eines seiner Markenzeichen wird sein klappriger VW-Bus sein, mit dem er nicht nur in die Ferne reist, etwa nach Algerien, sondern in dem er einige Jahre auch lebt und arbeitet: mitten in Paris. Ein Nomade, kein Flaneur.

Einen hervorragenden, von Holger Fock zusammengestellten Schwerpunkt zu Pierre Guyotat mit ersten Einblicken in die "Eden"-Übersetzerwerkstatt brachte bereits vor zwei Jahren die Literaturzeitschrift Schreibheft (Nr. 80. Herausgegeben von Norbert Wehr. Rigodon Verlag, Essen 2013). Dort sind, neben Interviews mit dem Autor und theoriegesättigten Arbeitsnotizen, ausführliche Informationen zur Biografie zu finden, die sich jetzt, da der an der Grenze zur Lesbarkeit operierende Roman zur Gänze vorliegt, als nützlich erweisen. So erfährt man etwa, wie Guyotat sein dunkles "Eden" definiert; nicht als paradiesischen Garten, sondern als "die letzten Tage der Kolonialherrschaft." Selbstbewusst spricht er von "meiner stilistischen Revolution" und davon, "kein Moralist" zu sein. "Menschlichkeit" ersetzt er durch "Menschheit", und stellt fest: "Schreiben ist stärker als ich".

Aus dem Strafbataillon in Algerien kehrt er 1963 nach Frankreich zurück - traumatisiert

Im Alter von zwanzig Jahren war Guyotat als Rekrut nach Algerien gekommen. Verurteilt wegen "Zersetzung der Truppenmoral", unter anderem wegen Lektüre der verbotenen Tageszeitung Le Monde, wird er zehn Tage lang verhört, dann ohne Verfahren wochenlang in ein Verlies gesperrt. Es folgt ein Strafbataillon und, 1963, die Rückkehr nach Frankreich. Traumatisiert, fährt er dennoch schon ein Jahr später mit seinem Bruder wieder nach Algerien. Später wird er an Depressionen leiden, Kliniken von innen sehen, wiederum darüber schreiben. Sein Marxismus dieser Jahre ist wacklig, obzwar er, wie so viele französische Intellektuelle, kurzzeitig Mitglied der KPF sein wird. Von einer weiteren Algerienreise zurückgekehrt, wird er im Mai 1968, zusammen mit Hunderten Demonstranten, in Paris verhaftet. 1971 ist für ihn Schluss mit dem kommunistischen Glauben, lieber engagiert er sich für Arbeiterräte und die Prostituiertenbewegung in Lyon.

Vor allem schreibt er wie ein Verrückter. Sein Werk umfasst Romane (das Debüt "Grabmal für fünfhunderttausend Soldaten" ist ebenfalls bei Diaphanes erschienen) und Tagebücher; die Aufmerksamkeit von "Eden" wird jedoch nicht zu wiederholen sein. Bis zur Erschöpfung soll er seine Schreibmaschine malträtiert haben, so wie die Körper in seinen Büchern malträtiert werden, ein gewisses wildes Ganzheitlichkeitsdenken (oder -wünschen) ist nicht zu übersehen. Im deutschen Sprachraum wären als Vergleich allenfalls Hubert Fichte mit seiner Ethnopoesie zu nennen oder Hans Henny Jahnn mit seiner Grenzauflösung zwischen tierischer und menschlicher Erregung.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Roman "Eden, Eden, Eden" stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Tatsächlich ist das Animalische im Menschen, das Menschliche im Tier für Guyotat keine fremde Vorstellung. In "Eden, Eden, Eden" werden brünstige Hunde oder Zicklein in die Triebentladung einbezogen. Das ist ein Schock, und will einer sein. Der Schauplatz dieser, wie er das nennt, "tierischen Menschheit": Algerien in der Endphase des langen, brutalen Befreiungskriegs, der 1962 mit der Entlassung in die Unabhängigkeit endete. Die Verbrechen des Algerienkriegs sind ein Schandfleck der französischen Geschichte, eine nicht verheilte Wunde, die in den Banlieues von heute weiterschwelt.

Für den Autor Pierre Guyotat aber war dieses Algerien der Ort, an dem seine Obsessionen Wirklichkeit wurden. Der ideale Ort für die Fantasien und Zwangsvorstellungen, die er in endlosen Mikro-Erzählungen aneinanderreiht, auf Beschreibungen komplett verzichtend, immer nah an der Schmerzgrenze. Wenige Helden tragen Namen, etwa Wazzag, ein "Hurenjunge" (so die geschickte Wortschöpfung des Übersetzers für "le putain"), der in einem Jungenbordell schafft. Die Kunden sind arme Hirten, Soldaten, Kleinbürger. Weitere Beteiligte: Säuglinge, Kinder, Frauen und Männer, Alt und Jung, Huren und Bauern, Herren und Sklaven. Guyotat legt Wert darauf, dass er alle gleich behandele, was insofern stimmt, als er kein moralisches Urteil fällt, und auch, weil die handelnden Subjekte keiner Psychologie folgen. Aber in einem Punkt stimmt es nicht: Gequält wird immer der Schwächere.

Erst 1981, unter dem frisch gewählten Präsidenten Mitterrand, wurde das Verbot gegen den Roman aufgehoben. "Man kann sich nicht vorstellen", resümierte Pierre Gyuotat vor wenigen Jahren in einem Interview, "welcher Energie es bedarf, um sein Persönlichstes, Intimstes durchsetzen zu können. Gerade das, was einen seit der Kindheit aus dem Gleichgewicht bringt, das, wofür man am meisten gerügt, zurecht- und zurückgewiesen wurde, wird dann zum Allgemeinsten." Diesen Radikalen sollte man endlich auch bei uns entdecken, obwohl oder gerade weil wir uns abgewöhnt haben, der Literatur die Sprengung aller Grenzen, aller Konventionen zuzutrauen.

Pierre Guyotat: Eden, Eden, Eden. Roman. Aus dem Französischen von Holger Fock. Mit Nachworten von Michel Leiris, Roland Barthes und Philippe Sollers. Diaphanes Verlag, Zürich 2015. 334 Seiten, 29,95 Euro.

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