Filmfestival:Showdown in Cannes

Wo man auch hinschaut beim Filmfestival, knistern die Konflikte: Zwischen Selfie-Jägern und Festival-Leitung, zwischen Regisseuren und ihrem Werk, zwischen Serebrennikow und Putin.

Von Tobias Kniebe

71st Cannes Film Festival

Das Anti-Selfie-Schild.

(Foto: Eric Gaillard/Reuters)

Die Schilder sind leuchtend rot, sie tragen das offizielle Palmenblatt-Logo und ein Verbotszeichen, das zwei Smartphones mit Blitzsymbolen durchschneidet. So sieht es also in der Praxis aus, das neue Selfie-Verbot von Cannes, das als Nachricht schon um die Welt ging. Man kann es nicht übersehen, wenn man den roten Teppich der 71. Filmfestspiele betritt. Man kann es aber natürlich ignorieren. Und das war dann auch schon der erste Showdown bei der Eröffnung des diesjährigen Festivals.

Wer würde gewinnen? Eine Institution aus der alten Welt, die seit jeher den Ruf hat, dass sie in Sachen Filmkunst auch mal streng und elitär werden kann? Oder doch die mediale Gegenwart, in der jeder Mitspieler auch ein Jäger nach Aufmerksamkeit ist, in der die Views und Likes sich in Influencer-Power und schließlich auch in Geld ummünzen lassen? Nach den ersten Tagen ist die Antwort überraschend eindeutig: Die Ordner schauen wirklich so grimmig, dass sich niemand mehr traut, sein Mobilgerät auch nur auf Hüfthöhe anzuheben. Einerseits. Andererseits wirkt die Atmosphäre auf den berühmten Treppen des Festivalpalasts nun irgendwie braver, freudloser, um nicht zu sagen: überreguliert.

Überreguliertes Filmfest: Selfies sind verboten, und Kritiker dürfen Filme nicht mehr vorab sehen

Dabei waren, mit Penélope Cruz und Javier Bardem, den immer noch sagenhaft gut aussehenden Hauptdarstellern des Eröffnungsfilms "Todos Lo Saben / Everybody Knows", alle Voraussetzungen für einen echten Glamourstart gegeben. Wenn man die beiden zusammen sieht, wirkt es absolut folgerichtig und doch auch wie ein Witz, dass sich die zwei anerkanntermaßen attraktivsten Vertreter eines Landes (hier: Spanien) auch gegenseitig voneinander angezogen fühlen. Wohl deshalb haben sie ihre Beziehung lange vor der Öffentlichkeit verheimlicht, bevor sie 2010 ihre Hochzeit bekannt gaben.

Film Everbody Knows

Powerpaar von Cannes: Die Hauptdarsteller des Eröffnungsfilms „Todo Lo Saben“ Penélope Cruz und Javier Bardem

(Foto: Festival)

Diese besondere Spannung spürte wohl auch der iranische Regisseur Asghar Farhadi. Sie inspirierte ihn zu einem durch und durch spanischen Film, obwohl er eigentlich kein Wort Spanisch spricht. Die Geschichte handelt von Paco und Laura, zwei einst leidenschaftlich Liebenden irgendwo in der Weinbauprovinz nahe Madrid, die sich aus rätselhaften Gründen verloren haben, weshalb Laura dann in ein neues Leben und eine andere Ehe in Argentinien geflüchtet ist. Was aber passiert, wenn sie - älter geworden und zweifache Mutter - in die Heimat zurückkommt? Na klar, da flammt wieder etwas auf.

Wie kaum ein anderer versteht sich Farhadi auf solch tragisch-unausweichliche Familienkonstellationen, aus denen er seinen Filmautoren-Ruhm und zwei Oscars geschöpft hat (für "Nader und Simin" und "The Salesman"). Eine Großfamilie voller multipler Spannungen, die für eine Hochzeit wieder zusammenkommt, dann eine Katastrophe, die alte Geheimnisse peinigend ans Licht bringt und das ganze Ensemble dazu zwingt, Farbe zu bekennen - das ist auch in "Todos Lo Saben" wieder packend und brillant inszeniert. Das einzige Manko liegt hier paradoxerweise in der Starpower von Cruz-Bardem selbst. Sie macht die Verwicklungen des Plots vorhersehbarer als bei Farhadi gewohnt.

Gemessen daran, was in diesem Jahr sonst so los ist, haben sich Farhadi und sein Team aber doch als stabile, wohltuend verlässliche Größen erwiesen. Alles andere, so scheint es, ist in Aufruhr. Da jagt ein Showdown den nächsten. Fragt man etwa einen grau melierten Kollegen von Le Monde beim offiziellen Eröffnungsdinner, warum er beim Blick auf die sensationell elegante Jurypräsidentin Cate Blanchett so eine Leichenbittermiene macht, löst man eine wahre Tirade gegen Festivalchef Thierry Frémaux aus. Eine weitere neue Regel besagt diesmal nämlich, dass die Kritiker in Cannes die Filme nicht mehr früher als alle anderen sehen dürfen, sondern gleichzeitig mit der Galapremiere.

Das neue Edikt soll bösen Tweets und schnellen Online-Vernichtungen den Zeitvorsprung nehmen, weil diese in den letzten Jahren schon manche Cannes-Premiere vorab in eine unfreiwillige Trauerfeier verwandelt hatten. So weit klar. Für die Verteidiger des gedruckten Worts, und insbesondere für die Le Monde-Kollegen, führt das aber zu neuen Arbeitsbedingungen. Sie müssen jetzt die ganze Nacht über schreiben, für eine Deadline gegen acht Uhr morgens (Le Monde ist ein Nachmittagsblatt). Und man merkt: Für diese neue Fron haben sie Rache geschworen. Bei der nächstbesten Gelegenheit - sollte sich die Sélection 2018 etwa als insgesamt schwach erweisen - wird Thierry Frémaux an der Heimatfront wohl geschlachtet werden.

Ein weiterer Showdown ging am Mittwoch zu Ende, und da hat Cannes erst einmal gewonnen. "The Man Who Killed Don Quixote", der offizielle Abschlussfilm von Terry Gilliam, darf gezeigt werden. Das entschied ein Gericht in Paris, vor dem ein früherer, inzwischen gefeuerter Produzent des Films eine einstweilige Verfügung gegen die Premiere erwirken wollte. Das Projekt ist in Filmkreisen längst legendär, weil es wie keine andere Produktion von Pech und Streitereien verfolgt zu sein scheint.

Ein erster Drehversuch musste beispielsweise im Jahr 2000 abgebrochen werden, unter anderem, weil der damalige Don Quixote-Darsteller wegen eines Bandscheiben-GAUs nicht mehr auf sein Pferd kam - zu sehen in der Dokumentation "Lost in La Mancha". Terry Gilliam musste 77 Jahre alt werden, bis sein Lebenstraum endlich in einem neuen Anlauf abgedreht war, aber nun läuft dieser Rechtsstreit, der noch nicht entschieden ist. Zu allem Überfluss schreiben britische Medien, Gilliam habe am Wochenende einen milden Schlaganfall erlitten, sei aber wieder zu Hause. Ob also Don Quixote wirklich in Cannes einreitet und nicht doch noch irgendetwas dazwischenkommt und ob sein Regisseur dann tatsächlich fit ist?

Cannes Film Leto

Zur Premiere seines Rockeropus „Leto“ durfte Regisseur Kirill Serebrennikow nicht anreisen.

(Foto: Festival)

Definitiv nicht bei seiner eigenen Wettbewerbspremiere dabei war der russische Theatermann und Filmregisseur Kirill Serebrennikow. Wie weltweit berichtet, hat Russland derzeit seinen Pass eingezogen, weil in Moskau gegen ihn wegen angeblicher Veruntreuung staatlicher Fördergelder ermittelt wird. Zusammen mit dem französischen Kulturministerium hatte das Cannes-Festival bei Präsident Putin interveniert, um eine Reisegenehmigung zu erwirken. Die Antwort aus Russland zitiert Thierry Frémaux dann genüsslich auf der Bühne: Man hätte nur allzu gern geholfen, leider sei dies aber eine Justizangelegenheit, und die Justiz sei in Russland nun mal unabhängig. Großes Gelächter im Saal.

Das sei klar gewesen, raunt die Frau auf dem Nebensitz, die sich als Filmkritikerin aus Moskau entpuppt. Glaubt man ihrem Geflüster, befindet sich der offen schwule Serebrennikow in einer Art persönlichen Fehde mit einem mächtigen Putin-Vertrauten, der heimlich ebenfalls schwul sei, dabei habe er natürlich die schlechteren Karten. Aber wie dem auch sei, der Film "Leto / Summer", dessen Gala dann ohne Serebrennikow läuft, entpuppt sich als eine höchst heterosexuelle Angelegenheit. Es geht um einen Rockpoeten, seinen jungen Schützling und ihre gemeinsame Muse.

Im Westen kann man nur ahnen, was der Film für eine bestimmte Generation von Russen bedeutet

Alles beginnt Anfang der Achtzigerjahre mit einem Konzert der Band Zoopark, einer der Bands, die den Spirit der Rockmusik überhaupt erst nach Russland gebracht haben. Ihr Sänger Mike Naumenko wird als Ikone inszeniert, enigmatisch hinter seiner Sonnenbrille, ein wahrer Poet mit der Gitarre, die Story basiert auf der Autobiografie seiner Frau. Noch berühmter wird dann aber das junge Talent, das bald in sein Leben tritt: Wiktor Zoi, der am Ende des Films die Band Kino gegründet haben wird.

FEU

Wenn nun an einem Sommertag am See, in Schwarz-Weiß gefilmt und von späthippiesker Lebensfreude umflutet, dieser Wiktor seine ersten Songs zur Gitarre klampft, kommt durchaus Stimmung auf, denn die Songs sind gut. Und doch kann man im Westen nur erahnen, was sie für eine bestimmte Generation von Russen bedeuten, für die - vor dem Beginn der Perestroika und dann in Zeiten des Wandels - jede poetische Kino-Songzeile systemkritisch klang und lebensverändernd gewesen sein muss. Man spürt, dass hier Legenden-Exegese betrieben wird, in der noch das winzigste Detail zählt. Da man die Legende selbst aber gar nicht kennt, fragt man sich etwas ratlos, warum diese netten jungen Menschen sich alle so wichtig nehmen und warum ansonsten relativ wenig passiert.

Jenseits all der Kämpfe um Regeln und Rechte, um künstlerische und politische Freiheit, die das Festival von Cannes diesmal ausficht, erinnert das an den ultimativen Showdown, in dem jeder Filmemacher am Ende gegen sich selbst antritt. Darin geht es darum, in jeder Geschichte das wirklich Universale zu suchen, zum Kern einer menschlichen Erfahrung vorzustoßen, die überall auf der Welt verstanden wird. Nirgendwo ist das so wichtig wie auf einem Weltfestival wie Cannes. Und es macht wohl den Unterschied aus zwischen den Standing Ovations, mit denen Asghar Farhadi gefeiert wurde, und dem eher höflichen Applaus für Kirill Serebrennikow.

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