Filmfest München:Träume von Wasserlilien

Das Filmfest München widmet der Virtual Reality eine eigene Reihe und diskutiert die Frage, ob "VR-Experiences" eine Forsetzung des Kinos sind oder eine eigenständige Kunstform.

Von Bernd Graff

Das Isarforum auf der Münchner Museumsinsel atmet andächtige Stille. Man muss das einmal so pathetisch sagen. So viel wispernde, abgedunkelte Abgeschiedenheit wie im Augenblick herrscht hier sonst nicht. Der zentrale Saal im Erdgeschoss ist in eine Reihe schmaler rechteckiger Parzellen eingeteilt, die durch je drei weiße, von der Decke hängende Laken begrenzt sind. Den improvisierten Räumen fehlt gewissermaßen wie im Theater die vierte Wand. Darum entsteht im Vorbeigehen der Eindruck von kargen Mönchszellen, in denen man einzelne Menschen bei seltsamen, vermutlich verbotenen Ritualen erblickt, oder von leeren, altertümlichen Sanatorien-Kompartimenten, in die man die harmloseren Verrückten zu deren Beruhigung gebracht hat.

Jedem Zelleninsassen ist eine Betreuung zur Seite gestellt, sie ist dazu da, eine Apparatur zu richten, welche die Stummen vor den Augen tragen, und ihre Schritte zu lenken, damit sie nicht blind ins Nachbarkompartiment tapern. Manchen hat man noch Sticks in die Hände gegeben, mit denen sie im Nichts herumfuchteln. Sie sehen, jeder für sich, was wir nicht sehen, es mag Welt, Wahn, Tod oder die Liebe sein.

Mit all dem Gerät haben sie sich ja auch in "Virtual Worlds" begeben, virtuelle Welten, die zu einem, wenn man dem bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder glauben darf, integralen Bestandteil des Münchner Filmfests geworden sind oder jedenfalls gerade dabei sind, es in Kooperation mit dem Bayerischen Filmzentrum zu werden. Doch genau das ist ja immer noch die Frage: Sind diese betreuten solipsistischen Vergnügungen (und Verrenkungen) im Cyberspace, ist Virtual Reality (VR), die hier so aufwendig und irgendwie immer aseptisch - sogar mit Warteräumen vor den weiß verhangenen Behandlungsflächen - hergestellt wird, denn überhaupt eine Fortentwicklung des Kinos mit den Mitteln neuer Medien? Oder ist VR eine eigene, ganz neue Kunstform, heute noch so unverstanden wie die Videokunst in den Sechziger-, Siebzigerjahren? Oder sind sie - noch mal ganz anders - doch eher so etwas wie aufgebohrte Computerspiele, die dem Spieler körperlichen Einsatz in einer programmierten Rundumwelt abverlangen?

Zu Gast auf dem Podium ist unter anderem Facebooks VR-Chef Colum Slevin

Dieser und weiteren grundsätzlichen Fragen zu VR war am Mittwoch ein vorzüglich besetzter "Professional Day" gewidmet, an dem etwa mit Colum Slevin der Chef von Facebooks Oculus-Team, mit Felix Lajeunesse der Mitbegründer der Félix & Paul Studios mit Sitz in Quebec, mit Myriam Achard die Chefin der New Media-Abteilung des "Phi Centers" in Montreal und mit Chloé Jarry die Chefin des Pariser "Lucid Studios" zugegen waren, um genau diese Fragen zu diskutieren. Ganz klar, sie kamen mit unterschiedlichen Ansätzen auch zu unterschiedlichen Ergebnissen. Abschließend geklärt ist die Frage also nicht, welchem Kreativfach diese Bildkunst nun zuzurechnen ist, kann sie vielleicht auch nie werden. Denn so richtig weiß man ja auch immer noch nicht, was man mit diesem "unvorstellbaren Wunder" an Technik (Slevin) nun genau anfangen soll.

Filmfest München: Ausschnitt aus „Dreams of ’O’“, einer Virtual Reality-Performance des Cirque du Soleil.

Ausschnitt aus „Dreams of ’O’“, einer Virtual Reality-Performance des Cirque du Soleil.

(Foto: Filmfest München)

Der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich Filmemacher, Künstler, Spieleprogrammierer, Museumspädagogen immer verständigen können, lautet "Experience", Erfahrung, Erlebnis. Das Adjektiv "überwältigend" darf gerne hinzugedacht werden, auch wenn diese Filmkunstspiel-Erfahrungen, die in der VR gemacht werden, leider kaum zu kommunizieren sind, da man ja immer alleine und nur auf Zeit in den unbekannten Welten unterwegs ist, was ja unter anderem darum auch "zum Horror langer Warteschlangen" (Jarry) in jenen Museen führt, die VR-Experiences heute anbieten. Was man, kleiner Tipp dazu, unbedingt in München anschauen sollte, ist die von Chloé Jarry produzierte VR-Arbeit "The Water Lilies Obsession", die sonst nur (und eben mit langen Warteschlangen!) in Museen, etwa im Pariser "Musée de l'Orangerie", zu erleben ist. Sie taucht ein in die Bildwände von Claude Monets "Wasserlilien", die dieser zwischen 1915 und 1926 in seinem Garten in Giverny gemalt hat, und schildert die Entstehung dieser Monumentalbilder. Das ist eine richtungsweisende Form neuer Kunstvermittlung, die Wissen mit Erlebnis auf allerhöchstem Niveau verbindet. Wenngleich, auch das blieb unverhohlen, Myriam Achard ausführte, dass VR für diese Institutionen immer sehr betreuungsintensiv ist. Man brauche Kustoden schon beim "Boarding" und bei dem abschließenden "Disembarking" der "Experience", also am Ein- wie Ausgang der VR-Vorführung.

VR, englisch: "Vii Arrrr", was, wenn man es mehrmals hintereinander ausspricht, wie "Viagra" klingt, ist wohl Kunst und Spiel und potentes Lehrmittel zugleich, der Immersion, dem totalen Abtauchen in die Illusion, gehört wohl auch die Zukunft, ein bisschen zumindest. Auch wenn die "Immersierten" so teilnahmslos wirken wie schläfrige Papageien: Etwas zuckt noch, und die Welt ist ihnen egal.

Doch anders als die - nennen wir sie doch so - 22 Exponate der VR-Kunst im Isarforum, welche die großartige Leichtigkeit des Vollendeten verströmen, machten die Diskussionspanel des "Professional Day" sehr deutlich, woran VR-Künstler immer noch zu knabbern haben, wenn sie sich die totale Immersion zum Ziel setzen.

Ein Problem, mit dem die junge Technik zu kämpfen hat, ist die "Ludonarrative Dissonanz"

Denn wie erzählt man mit digitalen Bewegtbildern eigentlich Geschichten, wenn deren Publikum mitten im "Film" sitzt und in jedem Augenblick selber entscheidet, wohin es gehen oder blicken möchte? Und wie positioniert man eine aufnehmende Kamera, wenn klar ist, dass Schnitte und selbst einfachste Schwenks im fertigen VR-"Film" für dieses Publikum das Ende aller Immersion bedeuten, also nicht vermittelbar sind und sogar Seekrankheit auslösen können? Man stelle sich dazu etwa den in Kontemplation versunkenen Mönch in Caspar David Friedrichs "Mönch am Meer" vor - die VR-Bildbetrachtung "Monk By The Sea" der Gebrüder Beetz ist im Isarforum zu sehen -, wenn die Kamera hier Bildschnitte so eigenmächtig wie im souveränen Film diktieren würde?

Bild zur Virtual Reality auf dem Filmfest

Die VR-Arbeit „The Water Lilies Obsession“ ist sonst in Museen, etwa im Pariser „Musée de l'Orangerie“, zu erleben.

(Foto: Filmfest München)

Colum Slevin, der ein vorzüglicher und unterhaltsamer Redner wie schlagfertiger Conférencier ist, machte darum in seiner Keynote deutlich, dass diese Fragen - na klar - nicht abschließend beantwortet sind, dass man aber auch noch in einer sehr jungen Entwicklungsphase des neuen Mediums sei, es mag gut und gerne gerade mal zehn Jahre alt sein. Die ersten Filme von Eadweard Muybridge (aus den 1870er-Jahren) seien damals auch nur "Tricks" für den Jahrmarkt gewesen: Bewegtbildspielereien. Zum Film sei der Film nur über seine Inhalte geworden, über die Geschichten, die als "Film" erzählt wurden. Also könne auch VR nur über die eigenen Storys stark werden, die dann wiederum so auch nur in VR erzählt werden könnten. Ansonsten müsse man sich darauf einstellen, dass allzu frühe Gewissheiten sich auch schnell wieder als falsch erweisen können.

Slevin erinnerte an die Fallstricke der "ludonarrativen Dissonanz", dem auch in Computerspielen vorkommenden Grundwiderspruch zwischen dem ermöglichten eigenen Handeln und der erzwungenen Fortführung einer vorgegeben Story und empfahl allen VR-Schaffenden darum das stets frische Zen-Bewusstsein des "Beginner's Mind", das mentale Offenhalten für alle Möglichkeiten. Experiment und Experience gehören in der VR also unbedingt noch zusammen und darum, um es mit dem "Mönch am Meer" zu sagen, reicht das Nachdenken noch nicht ganz aus, "alle Rätsel der ungewissen Zukunft zu lösen".

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: