Fall Gurlitt:Gefangene der Geschichte

Fall Gurlitt: Die "Badeszene" von Max Liebermann ist auch unter den freigegebenen Werken.

Die "Badeszene" von Max Liebermann ist auch unter den freigegebenen Werken.

(Foto: Private Sammlung Cornelius Gurlitt, Salzburg / Jörg Häntzschel)

In Österreich lagert jener Teil der Sammlung Gurlitt, den die Anwälte des Erben und Sammlers aus seinem Haus in Salzburg gerettet haben. Bisher nahm man an, es handle sich um 60 Werke. Es sind aber 238 - ein erster Blick in das geheime Lager an einem unbekannten Ort.

Von Jörg Häntzschel und Ira Mazzoni

Nachdem eine Gruppe von Anwälten, Sachverständigen und Entrümplern nun am 10. Februar Cornelius Gurlitts Haus in Salzburg geöffnet und durchsucht hatte, vermeldeten sie eine Sensation. 60 Kunstwerke seien in dem Anwesen gefunden worden, das der Sohn des Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt seit seinem Umzug nach München 2011 nicht mehr betreten hatte, darunter viele bedeutende Gemälde. Eben hatte das Interesse an der Arbeit der neu eingesetzten Taskforce und am juristischen Hickhack um die Rechtmäßigkeit der Beschlagnahmung von Cornelius Gurlitts Sammlung in München-Schwabing durch die Staatsanwaltschaft nachgelassen, da rüttelten seine Anwälte die Öffentlichkeit mit dem neuen Fund wach.

Doch die Geschichte war damit nicht zu Ende, wie man jetzt weiß. Zwei weitere Male kehrte das Kommando in das Haus zurück. Und fand, nach gründlicherer Suche und hinter "sperrigen und unbrauchbaren Gegenständen", wie es ein Beteiligter diskret beschreibt, noch erheblich mehr Kunstwerke. Insgesamt sind es nun 238. Es sind weniger als die 1280 in Schwabing beschlagnahmten Werke, doch der Wert der beiden Sammlungen könnte ähnlich hoch sein.

Der Schwabinger Kunstschatz liegt nach wie vor in einem Lager in München. Außer den Ermittlern und den Experten der Taskforce hat ihn bis heute niemand gesehen. Die winzigen, schlechten Reproduktionen im Verzeichnis von lostart.de sind die einzigen Existenzbeweise der Gemälde und der vielen kleinen Zeichnungen und Druckgrafiken.

Vom Salzburger Fund wusste man bisher gar nichts. Mehr als ein paar Namen haben die Anwälte, der Betreuer und der Sprecher von Cornelius Gurlitt bislang nicht genannt. Wenn auch sehr große: Renoir, Monet, Manet, Courbet, Corot, Liebermann. Bis jetzt - Anfang der Woche lud Gurlitts Team einige Journalisten nach Österreich, um ihnen erstmals einen Blick in diese verschollene Sammlung zu gewähren.

Der Ort, an dem sie jetzt lagern, hat so gar nichts gemein mit dem Häuschen im beschaulichen Salzburger Villenviertel. Als Gurlitts Berater den Treffpunkt durchgeben, sprechen sie von einem "Bunker". Doch Gurlitts Kunst liegt noch nicht im Bunker. Der befindet sich unter der Erde und ist für saubere Kunst bestimmt: Kunst, die nicht nur gründlich gereinigt und für ein langes Leben im Dunkeln konservatorisch behandelt wurde; sondern vor allem Kunst, an deren Herkunft und Besitzverhältnissen kein Zweifel besteht.

Gurlitts Bilder bleiben vorläufig im dritten Stock des unscheinbaren Hauses, in großen Betonräumen mit eigenem Waschbecken. Hier bewahrt man die Kunst auf, an der noch gearbeitet wird. Kunst, an der man sich die Hände schmutzig machen kann.

Wie im Krimi

Was man nun sieht, als sich am Ende des Korridors die lastwagenbreite Stahltür öffnet, lässt einen erschauern. Es ist wie im Fernsehkrimi, wenn die Leichen identifiziert werden. Nur zeichnen sich unter den weißen Papierbögen auf den vier großen Tischen keine Füße und Köpfe ab, sondern wuchtige Rahmen mit Werken, von denen die meisten seit Jahrzehnten niemand gesehen hat.

Gurlitts Sprecher Stephan Holzinger, der Spezialist für "Krisen, Rechtsstreitigkeiten und Reputationsmanagement", hebt einen der Bögen an und erlaubt einen Blick darunter: Es erscheint eine auf Kupfer gemalte Flusslandschaft, die durchaus von Breughel dem Älteren sein könnte. War nicht genau diese Bootslände eines der bestverkauften Motive in der Werkstatt des Antwerpener Landschaftsmalers? Hat nicht noch der Sohn Profit aus dieser Bildfindung gezogen? Wurde nicht 1999 ein auf 1607 datiertes Original in Wien wiederentdeckt?

Von deutscher Geschichte verschüttet

Wem nützt die Geheimhaltung jetzt noch, scheint sich nun auch der Krisenmanager zu fragen. Er hebt kurz entschlossen die weißen Schleier von allen Bildern. Da liegen sie also: Die von deutscher Geschichte verschütteten und nach Jahrzehnten endlich ausgegrabenen Werke von Picasso, von Manet, Pissarro, Renoir und Seurat, von Tischbein und Degas, von Rousseau und Cézanne. Wie in Schwabing stammen mutmaßlich alle Bilder aus dem Nachlass von Cornelius Gurlitts Vater Hildebrand, der die allermeisten von ihnen wohl vor und während des Kriegs gekauft hat.

Die Salzburger Sammlung, das zeigt sich schnell, ist ein direktes Pendant zu der aus Schwabing. Ähnliche Schwerpunkte, ähnliche Mischungsverhältnisse. Wie in München wurden auch hier besonders viele Arbeiten auf Papier gefunden. Stapelweise liegen sie in zwei Stahlregalen, darunter mehrere Dutzend Zeichnungen von Rodin und etliche Holzschnitte von Emil Nolde. Wie in Schwabing werden sie ergänzt durch sorgfältig ausgewählte Gemälde, 39 sind es hier.

Gedränge unter Goldrahmen

Wie in München macht Impressionismus und Expressionismus den Großteil der Werke aus. Wie in München hat Hildebrand Gurlitt auch hier den Werken der Moderne einige besonders schöne Schmuckstücke aus älteren Epochen zur Seite gestellt wie Paten. Es gibt ein großes Gedränge unter den vielen Goldrahmen auf den Tischen. Wohltätigkeitsbasar ist die erste Assoziation angesichts der Klappböcke, der Kisten mit antikem Kram, die in einer Ecke stehen, der Büste von Hildebrand Gurlitt selbst. Asservatenkammer ist die zweite. Doch man täuscht sich. Gleich neben dem Gurlitt-Kopf von wohl eher sentimentalem Interesse steht in der Ecke eine Bronze von Rodin. Ganz zu schweigen von der Schönheit dessen, was die Tische bieten.

Das erkennt man auch im fahlen Neonlicht, und trotz des traurigen Zustands, in dem manche Bilder sind: An den Rahmen haften Reste von Spinnweben und Staub. Die Ränder mancher Leinwände hängen fransig von ihrem Holzgerüst. Manche Gemälde sind brüchig. Stockflecken, Verfärbungen, gelb-braune Stellen überall.

Einige Bilder sind hinter Glas gerahmt. Wenn niemand hinsieht, kann man mit dem Finger darüberstreichen: schwarz. Andere Bilder waren früher gerahmt und liegen jetzt nackt da: Weil der Rahmen die Jahrzehnte nicht überstanden hat? Oder weil es einfacher war, die Leinwände zu rollen, wenn man in großer Eile und mit viel Gepäck verreisen musste? Zwei Bilder liegen bäuchlings auf dem Tisch. "Kontaminiert", erklärt Holzinger.

Nicht "verfolgungsbedingt entzogen"

Nicht kontaminiert, in diesem und im anderen Sinne sind angeblich die fünf Bilder, die Gurlitts Anwalt Hannes Hartung zur Veröffentlichung freigegeben hat, bevor ihm am Mittwoch von dessen Betreuer Christoph Edel das Mandat entzogen wurde. Hartung ist sich "ziemlich sicher", dass Gurlitts Vater diese fünf nicht von jüdischen Besitzern unter Wert gekauft, dass er ihre Notlage nicht ausgenützt hat, dass sie ihnen auch nicht einfach weggenommen wurden. Dass sie also nicht "verfolgungsbedingt entzogen" sind und damit nicht in die Kategorie Raubkunst fallen. Er habe sie mit den einschlägigen Raubkunst-Verzeichnissen abgeglichen, dem Repertoire des biens spolies, dem Art Loss Register und lostart.de, und sei nicht fündig geworden. Diese fünf hängen hier, schon gut beleuchtet und mit improvisierten Schildchen versehen an den Wänden. So könnten die Höhepunkte der Sammlung Gurlitt eines Tages inszeniert werden, wenn das große Reinigen, Forschen und Verhandeln ausgestanden ist.

Mit Wucht tritt uns das irre Bildnis des utopischen Philosophen Jean Journet entgegen, das Gustave Courbet 1850 gemalt hat. Courbet hat den Exzentriker als weitausschreitenden Wanderer mit prall gefüllten Taschen, Stock und Hut aus der Untersicht vor belebtem Himmel dargestellt. Der Aufschlag des purpurfarbenen Übermantels leuchtet förmlich aus dem angestaubten Bild hervor. Süffisant vermerkte der große Realist Courbet, das Porträt stelle Journet "auf der Suche nach der Universellen Harmonie" da.

Das nahezu quadratische Bild ist eine Legende. Ihr letzter bekannter Standort war die berühmte Realisten-Sammlung der Madame Albert Esnault-Pelterie in Paris. Die Sammlerin verstarb wohl 1937. Ihr Sohn, der französische Luftfahrtpionier, der bis zum Einmarsch der Deutschen an Atomantrieben für Raketen forschte, erbte die Sammlung. Deren Schicksal sollte nun dringender denn je recherchiert werden.

Monet, Manet, Renoir

Dann ist da Claude Monets "Waterloobridge, en temps gris", eine trübe London-Ansicht, die, so scheint es, der Rauch aus den Fabrikschornsteinen im Hintergrund Jahrzehnt für Jahrzehnt immer trüber werden ließ. Die letzte sichere Nachricht von diesem Bild kam aus dem Haus der Galerie Durand-Ruel in Paris. Paul Durand-Ruel war der große Kunsthändler für die Impressionisten. Die Ansicht der Brücke aus dem Jahr 1903 hatte er zwei Jahre nach der Entstehung vom Künstler selbst erworben und dann kurz vor dem Ersten Weltkrieg an seinen deutschen Vertragspartner Paul Cassirer in Berlin verkauft.

Was mit dem Bild in den chaotischen Kriegsjahren geschah, die Cassirer selbst in der sicheren Schweiz verbrachte, ist bisher unbekannt. Cassirers Berliner Mitarbeiter verkauften jedenfalls etliche Bilder aus dem Keller - auch solche, die vertraglich noch Durand-Ruel gehörten. Mit dem folgenden Rechtsstreit begann der Niedergang des einst so glänzenden Kunstsalons. Wann und wo Hildebrand Gurlitt das Gemälde auftrieb, ist unklar. In deutschen Kunstauktionen ist es jedenfalls nie aufgetaucht.

Und dort, in einem üppigen historistischen Goldrahmen hängt eines der ganz wenigen maritimen Bilder von Edouard Manet. Im Vordergrund des nicht besonders großen Gemäldes nichts als blaugrüne See. Der Sturm ist abgezogen, links regnen noch ein paar Sturmwolken ab, aber die Sonne bricht schon durch. Und genau auf der Horizontlinie zwischen Meer und Himmel ziehen zwei voll im Tuch stehende Großsegler aneinander vorbei. Es ist ein Traum von einem Bild. Und es gibt im ganzen Œuvre Manets nur ein Marine-Gemälde mit identischem Bildaufbau. Im Werkverzeichnis mit der Nummer 226 versehen, trägt es den Titel "Marine, Temps d'orage". Der letzte eingetragene Besitzer ist ein Baron Mazukato in Tokio. Und schon steht man vor neuen Rätseln. Zumal auch noch eine Kopie nach Manet bekannt ist.

Ungerahmt, fast als sei es gerade von der Staffelei genommen worden, präsentiert sich ein luftiges Ölgemälde, das uns als Auguste Renoirs "Mann mit Pfeife" vorgestellt wird. Das sommerfrische Stück, das viel unbehandelte Leinwand durchscheinen lässt, zeigt einen bäuerlich gekleideten Mann mit Schiebermütze, der, sein Pfeifchen in der Hand, in seinem Korbstuhl eingenickt zu sein scheint. Felder und Wiesen hinter ihm leuchten sonnig. Das Bild trägt keine Signatur, kein Monogramm, keine Jahreszahl. Sucht man im Werkverzeichnis nach einem entsprechenden Motiv, dann findet man nichts. Also auch eine große Entdeckung? Bevor man das sagen kann, müsste erst einmal die Zuschreibung geklärt werden.

Geschichte des realistischen Landschaftsbildes

Eines zeigt sich an diesem denkwürdigen Vormittag mit dieser Sammlung: Hildebrand Gurlitt hatte ein Faible für Landschaftsmalerei. Es scheint, dass er ausgehend vom Erbe seines Großvaters, des Hamburger Malers Louis Gurlitt, der ebenfalls mit etlichen Werken vertreten ist, versuchte, so etwas wie die Geschichte des realistischen Landschaftsbildes sammelnd zu dokumentieren.

Nimmt man die Bilder des Schwabinger Kunstfundes und die aus dem Salzburger Haus zusammen, ergibt sich eine erstaunliche Galerie, die von Jan Brueghel dem Älteren bis zum Post-Impressionisten Paul Signac reicht. Als Hildebrand Gurlitt mit dem Kunsthandel begann, war dieses Genre bei bürgerlichen Sammlern hochbegehrt. Auf dem Pariser Kunstmarkt bot sich ihm dann von 1940 an reichlich Gelegenheit, realistische Landschaftsbilder zu erwerben. Auffallend sind die vielen Arbeiten von Corot und Courbet in beiden Sammlungsteilen. Auffallend ist auch, dass die luftigen, freien Zeichnungen von Max Liebermann reichlich vorhanden sind. Zu gerne möchte man wissen, aus welchem Bestand Hildebrand Gurlitt diese erworben hat.

Die Suche, das wird immer offensichtlicher, hat erst begonnen. Und die beiden Forscherinnen, die im Auftrag der Anwälte von Cornelius Gurlitt die Provenienz-Recherche betreiben, scheinen selbst bei den präsentierten Highlights noch nicht weit gekommen zu sein. Demnächst sollen ihnen allerdings renommierte Experten zur Seite gestellt werden. Man will demonstrieren, dass die eigenen Provenienzrecherchen zügiger und ergiebiger sind als alles, was die Taskforce leistet, die bisher über die Präliminarien ihrer Arbeit nicht hinauskam. Wie die Anwälte von Cornelius Gurlitt nach ihrer ersten Bestandsaufnahme schon behaupten können, es gebe kaum Anhaltspunkte für einen Raubkunstverdacht, ist unverständlich.

Die Bewachung und Bewahrung der ihm von seinem Vater angetrauten Kunst sei sein einziger Lebensinhalt gewesen, hat Gurlitt mehrfach gesagt. Steht man vor diesen Bildern, ist klarer denn je, wie unendlich schwer er an dieser Aufgabe hat tragen müssen. Wie die Bilder ist auch er ein Gefangener der Geschichte.

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