Abgasskandal:Ist der Elektromotor tatsächlich die Zukunft des Autofahrens?

Abgasskandal: Den Lancia Aurelia gibt es auch nicht mehr. Er stammt aus einer Ära, für die das Auto noch ein Freiheitsversprechen und der Verbrennungsmotor kein Staatsfeind war. Hier eine Szene aus dem Film "Il Sorpasso" (Verliebt in scharfe Kurven) aus dem Jahr 1962. Der Lancia ist eigentlich der Hauptdarsteller.

Den Lancia Aurelia gibt es auch nicht mehr. Er stammt aus einer Ära, für die das Auto noch ein Freiheitsversprechen und der Verbrennungsmotor kein Staatsfeind war. Hier eine Szene aus dem Film "Il Sorpasso" (Verliebt in scharfe Kurven) aus dem Jahr 1962. Der Lancia ist eigentlich der Hauptdarsteller.

(Foto: Gloria Filmverleih AG)

Im Zuge der Diesel-Affäre wird der Niedergang des Verbrennungsmotors als epochal beschrieben. Dahinter steckt auch politisches Kalkül.

Essay von Thomas Steinfeld

Der Verbrennungsmotor war die beherrschende Technik des 20. Jahrhunderts. Auch im frühen 21. Jahrhundert gibt es vermutlich keine andere Maschine, die zu solcher Perfektion entwickelt wurde. Wenn überhaupt noch Steigerungen in der Effizienz, in der Leistung und in der Stabilität des Verbrennungsmotors möglich sind, dann sind sie aufwendig und teuer - und mit jedem weiteren Schritt werden sie noch aufwendiger und noch teurer. So ist es auch mit der jüngsten Errungenschaft zur Minderung des Benzinverbrauchs, der 48-Volt-Elektroanlage.

Um höchstens zehn Prozent, so heißt es, werde diese Technik den Verbrauch eines Benzinmotors vermindern können - oder anders gesagt: bei einem Fahrzeug der Mittelklasse um einen guten halben Liter. Zugleich aber ist allen Beteiligten bekannt, dass diese Errungenschaft, so hoch ihr Preis und so überschaubar ihre Wirkung auch sein mögen, nur für wenige Jahre Bestand haben wird. Denn es scheint beschlossen zu sein, dass der Verbrennungsmotor keine Zukunft mehr haben wird - und mit ihr eine Kultur der Fortbewegung, die den Menschen und die Gesellschaft der vergangenen hundert Jahre bis ins Innerste prägte.

Für die meisten Menschen ist das Auto das mit Abstand teuerste Konsumgut

Das Automobil ist eine Technik, die für die Gesellschaft eine ähnliche Bedeutung hat wie die Versorgung mit Elektrizität oder mit Wasser. Es ist ein notwendiges Gerät, für die meisten Menschen und für die gesamte Gesellschaft. Zugleich ist es, für Deutschland, aber auch für einige andere Industriestaaten, Grundlage des nationalen wirtschaftlichen Erfolgs. In beiderlei Hinsicht spielt eine Besonderheit des Automobils eine Rolle: Für die allermeisten Menschen ist es das mit Abstand teuerste Konsumgut, das sie in ihrem Leben erwerben. Es kostet mindestens ein halbes Jahresgehalt, es wird meist nach ein paar Jahren mit hohem Wertverlust verkauft - und während dieser Zeit fallen unablässig weitere Kosten für Unterhalt und Betrieb an. Kein anderer Gebrauchsartikel verlangt einen solchen Einsatz, sodass eine Entscheidung für ein Automobil mit beinahe existenzieller Wucht daherkommt. Deswegen ist die Wahl zwischen Ottomotor und Dieselantrieb, je nach jährlicher Fahrleistung, ein so gewichtiges Verkaufsargument.

Zugleich ist es für die meisten Bürger eines industrialisierten Staates immens schwierig, sich der Entscheidung für ein Automobil zu entziehen. Zur Not wird auf Raten bezahlt, geleast oder gemietet: Ohne Automobil geht es nicht. Denn für viele Menschen hängt nicht nur die Frage daran, wie sie zu ihrem Arbeitsplatz oder zu ihrem Ausbildungsort kommen, sondern auch eine elementare (wenn nicht: die elementare) Erfahrung persönlicher Freiheit.

Die Eigenart und Bedeutung dieser Ware spiegelt sich in der Industrie, die der Herstellung von Automobilen gewidmet ist. Sie setzt Kapitalien von riesenhafter - und immer weiter wachsender - Größe voraus. Für jeden dieser Hersteller ist der nationale Markt längst zu klein. Deswegen gibt es, immer noch, zu viele Hersteller: Lang ist die Liste der Firmen, die in den vergangenen Jahrzehnten untergingen, weil sie nicht mehr hinreichend in Forschung, Entwicklung, Fertigungstechnik und Design investieren konnten. So verschwand Saab, während Cooper, Lancia und Seat in größeren Konzernen aufgingen, Jaguar, Land Rover und Volvo von ostasiatischen Kapitalgesellschaften übernommen wurden und Fiat mit Chrysler fusionierte.

Alle diese ehemals selbständigen Firmen waren nicht mehr in der Lage, aus eigener Kraft die immensen Summen aufzubringen, die eine Automobilproduktion erfordert - und sind also Beispiele für die Stimmigkeit einer These von Karl Marx, der zufolge die "fortschreitende Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit" früher oder später nicht nur die "Profitrate" sinken lasse (siehe Opel), sondern auch eine Konzentration des Kapitals bewirke (siehe Mercedes-Benz).

Die technische Entwicklung, die das Automobil in den vergangenen zwanzig, dreißig Jahren durchlief, ist Zeugnis und Mittel dieser Konkurrenz. Die Fahrzeuge wurden immer größer, immer schwerer, immer stärker, technisch immer komplizierter - und zwar exponentiell. Die Verwandtschaft eines BMW 520 i (150 PS) aus dem Jahr 1997 und einem entsprechenden Fahrzeug aus dem Jahr 1977 (115 PS) ist ungleich größer als die zur aktuellen Limousine gleichen Namens (184 PS). Besonders groß waren die Fortschritte beim Dieselmotor. Dass der ehemals träge Diesel plötzlich mit einem Benziner mithalten konnte, der von einem Turbolader unterstützt wurde, aber wesentlich sparsamer war: Dieser Fortschritt in der Motorentechnik ließ den Diesel so populär und dessen Abgaswerte so schlecht werden. Zwar ist es kein unlösbares technisches Problem, den allergrößten Teil dieses Schmutzes herauszufiltern. Aber das ist erstens teuer und mindert zweitens die Leistung der Maschine. Beide Folgen mindern die Aussichten im Wettbewerb.

Einer dreifachen Bedrohung soll das Automobil gegenwärtig ausgesetzt sein: Der Treibstoff wird knapp, die Abgase vergiften die Städte, und wenn alle Welt mobil ist, hört alle Welt auf, mobil zu sein, weil die Mobilität dann auf ihr eigenes Mittel stößt und im Stau steht. Keiner dieser Gründe reicht aus, um - wie es jetzt geschieht - den Verbrennungsmotor zu einer bald erledigten Angelegenheit zu erklären, schon gar nicht im Hinblick auf einen bestimmten Zeitpunkt: Denn der Verbrauch von Öl für den Individualverkehr sinkt, während immer mehr Vorkommen erschlossen werden. Die Stickoxide waren gesundheitsgefährdend, auch bevor die Grenzwerte gesenkt wurden, und sie sind es immer noch. Überhaupt ist nicht einzusehen, warum sich die Debatte auf den Dieselmotor in Automobilen beschränkt, während Schiffe weiter mit Schweröl betrieben werden und Rinder nach wie vor Methangas ausstoßen, ohne dass deswegen von Verboten gegen die Schifffahrt oder gegen die Viehzucht die Rede wäre. Für die Dringlichkeit, mit der nun der Verbrennungsmotor (und insbesondere der Diesel) infrage gestellt wird, muss es also noch andere Gründe geben.

Alle Hersteller hoffen auf ein Monopol

So groß sind die Automobilhersteller, die der Wettbewerb (oder die fallenden Profitraten) bislang übrig ließ, dass ihr Fortbestehen für die Nationen, in denen sie jeweils zu Hause sind, zu einer elementaren Frage der wirtschaftlichen Selbstbehauptung wurde. Die Vereinigten Staaten, Japan, Frankreich und Deutschland unterscheiden sich darin wenig. Fortzubestehen bedeutet deshalb, einem immensen Druck zur technischen Erneuerung hinnehmen zu müssen, wobei hinter dem Zwang zur Innovation für jeden Hersteller stets das Begehren steht, eine technische Lösung zu finden, die einen unschlagbaren Vorteil in der Konkurrenz verschafft: Sie alle hoffen auf ein Monopol, das wenigstens für eine gewisse Zeit Bestand hat.

Aus diesem Grund erscheint der Übergang zum Elektromotor als so entscheidend, und aus diesem Grund werden die Nachteile des Verbrennungsmotors beim Automobil viel ernster genommen, als das bei anderen, ökologisch nicht weniger problematischen Wirtschaftszweigen der Fall ist - wobei der Staat, eben weil er sich als ideeller Sachwalter des gesamten Wirtschaftszweigs versteht, längst dazu übergegangen ist, den technischen Fortschritt etwa durch Grenzwerte zu erzwingen: Jedes ökologische Argument hat eine ebenso ökonomische wie technische Rückseite.

Als Martin Winterkorn, der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Volkswagen AG, im Januar dieses Jahres von einem Untersuchungsausschuss des Bundestages befragt wurde, wie es zum großen Betrug bei den Abgaswerten habe kommen können, gab er zur Antwort: "Wir legen Kriterien wie Emissionen, Verbrauch oder Kosten in Produktbeschreibungen fest." Das Verfahren entspricht den zeitgemäßen Routinen großer Unternehmen des herstellenden Gewerbes. Sie operieren kaum mehr als technische Betriebe, in deren Mitte Ingenieure an der Erfindung und Entwicklung von Geräten arbeiten, sondern arbeiten vor allem nach Art von Finanzierungsgesellschaften, die in erwünschte, womöglich realisierbare, aber noch nicht vorhandene Produkte investieren. Eigentlich, führte Martin Winterkorn weiter aus, hätten es in seinem Unternehmen Ingenieure geben müssen, die jene Produktbeschreibung für utopisch erklärten. "Das ist nicht geschehen." Mit diesem Satz beginnt die Heuchelei: Denn so, wie der Vorstandsvorsitzende weiß, warum er sich einen solchen Motor wünscht, weiß der Ingenieur, in welcher Konkurrenz die von ihm zu entwickelnde Maschine steht. Der eine verlangt etwas Utopisches, der andere würde es allzu gerne liefern. Und nickt.

Die Politik, in ihrer Funktion als ideeller Sachwalter der heimatlichen Volkswirtschaft, weiß sich in ihrem Erfolg von den Leistungen der Automobilindustrie abhängig. Deshalb agiert sie, etwa im Rahmen der Europäischen Union, als Agentin ihrer Hersteller. Die immer weiter nach unten verschobenen Grenzwerte für den Ausstoß von Stickoxiden, die gegenwärtig den Dieselmotor zu einer so fragwürdigen Angelegenheit machen, reflektieren nicht nur ökologische Bedenken (weshalb Stadtverwaltungen anders argumentieren als Wirtschaftsminister), sondern auch Standpunkte in der Konkurrenz von Volkswirtschaften: Darin nehmen sich kleine Motoren, wie sie etwa von Peugeot oder Fiat gebaut werden, anders aus als große Maschinen, die in einen BMW oder einen Mercedes gesetzt werden.

In der Folge agiert die Politik zugleich als Kontrolleur und als Förderer seiner Automobilindustrie. Und diese doppelte Funktion hat nicht nur den "Prüfstand" zur Konsequenz, also eine mehr oder minder erfundene Instanz zur Kontrolle der als allgemein verbindlich geltenden Grenzwerte. Sie schafft vielmehr auch die Voraussetzung für den allgemeinen Betrug mit diesen Werten. Denn jeder Ingenieur, jeder Vorstand, jeder Politiker weiß, dass diese Werte Verpflichtung und Ermöglichung zugleich sein sollen - weshalb es vielleicht kein Zufall ist, dass der Skandal um deutsche Dieselmotoren in den Vereinigten Staaten begann, und weshalb es gewiss kein Zufall ist, dass die deutschen Hersteller zuweilen im Kartell agieren.

Der moderne Zentaur, der so lange über das automobile Reich herrschte, ist am Ende der Reise

Träger einer Weltanschauung war das Automobil von vornherein gewesen, mit der zunehmenden Trennung von Fahrzeugen für den symbolischen Gebrauch (das heißt: mit den "Premiummarken") vom automobilen Standard entfaltete sich das Potenzial des Automobils als Vehikel des Luxus und der Moden - und entfernte sich also von seiner ursprünglichen Bestimmung. Der enthusiastische Fahrer, der moderne Zentaur, der die Entwicklung des Automobils über viele Jahrzehnte beherrschte, scheint angesichts des zunehmend selbstfahrenden Automobils ebenso an sein historisches Ende zu geraten wie der Verbrennungsmotor angesichts versiegenden Öls. Der Elektromotor dagegen eignet sich, technisch betrachtet, nur schlecht zur Herausbildung von Eigenheiten, die für die Konkurrenz unter den Herstellern entscheidend sein können: Die Spannbreite der technischen Möglichkeiten ist geringer als beim Verbrennungsmotor, weshalb man sich einen spulengetriebenen Alfa Romeo nur schlecht vorstellen kann.

Mit anderen Worten: Würde der Elektromotor tatsächlich zum Standardantrieb, würde der technologische Vorsprung einzelner Hersteller nivelliert. Neue Anbieter hätten es, in China oder anderswo, wesentlich leichter, konkurrenzfähige Produkte auf den Markt zu bringen. Der historische Abschied des enthusiastischen Automobilisten scheint diese Übergänge zu erleichterten. Es sind zuletzt solche Aussichten, einschließlich der in ihnen enthaltenen Unsicherheiten, deretwegen jetzt die Diskussionen um die Abgaswerte von Dieselmotoren so grundsätzlich werden.

Eine Frage bleibt nun offen: die Frage, ob der Elektromotor denn nun tatsächlich die Zukunft der individuellen maschinellen Fortbewegung sein wird. Denn so sehr sich zumindest große Teile der Automobilindustrie auf diese Zukunft geeinigt zu haben scheinen (und so sehr jedes einzelne Unternehmen offenbar darauf hofft, zu der einen technischen Lösung zu gelangen, an der alle anderen Konkurrenten scheitern), so gering nehmen sich doch bisher die Fortschritte vor allem bei der Speicherkapazität der Batterien aus. Vielleicht ist es deswegen, vom Standpunkt eines Unternehmens gedacht, durchaus vernünftig, den Dieselmotor noch nicht aufzugeben? In der Geschichte der Technik gibt es jedenfalls Beispiele für Geräte, denen die Zukunft aufgetragen war, sich aber bald als nur vorübergehende Lösungen entpuppten, hinter denen sich eine ganz andere, revolutionäre Technik verbarg. Oder erinnert sich wirklich niemand mehr an die elektrische Schreibmaschine?

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