Ein Aufsatz:Mariana Alessandri gegen die Fröhlichkeit

Im digitalen Magazin Aeon polemisiert die Philosophin Mariana Alessandri gegen die "cheerfulness" als normatives Fröhlichkeitsgebot in der amerikanischen Kultur.

Von Felix Stephan

In der amerikanischen Gegenwartskultur ist die Fröhlichkeit so allgegenwärtig, dass leicht der Eindruck entsteht, es handele sich um einen Wert an sich. In ihrem Essay "Against Cheerfulness" im digitalen Magazin Aeon (https://aeon.co/essays/cheerfulness-cannot-be-compulsory-whatever-the-t-shirts-say) sucht die Philosophin Mariana Alessandri in der Geistesgeschichte nun nach Anhaltspunkten für diese Auffassung und stellt dabei fest: Historisch gesehen ist Fröhlichkeit gar keine Tugend. Die alten Griechen, schreibt Alessandri, hätten vier Grundtugenden identifiziert: Mäßigung, Weisheit, Mut und Rechtschaffenheit. Die griechische Philosophie habe sich aber eher mit den Taten des Einzelnen beschäftigt, als mit seinem Wohlbefinden. Wenn Aristoteles vor die Wahl gestellt war, sich entweder gut zu verhalten und sich dabei schlecht zu fühlen, oder sich schlecht zu verhalten und sich dabei gut zu fühlen, entschied er sich für das gute Verhalten. "Während wir auf die positiven Gefühle warten, forderte er uns auf, an unserer Mäßigung, Weisheit, Mut und Rechtschaffenheit zu arbeiten.

Aber er sagte nichts darüber, währenddessen zu lächeln." Die Stoiker hätten den Gefühlen dann schon einen höheren Rang eingeräumt, allerdings war ihnen eher an Selbstkontrolle gelegen, was amerikanische Übersetzer im Nachhinein uminterpretiert hätten. Marc Aurels Begriff "eunous" aus den "Selbstbetrachtungen" zum Beispiel, wörtlich etwa "gut gesinnt", sei 2003 in einer amerikanischen Übertragung des griechischen Originals mit "cheerfulness", also Fröhlichkeit, übersetzt worden. Und auch wenn die Christen zur Liste der Grundtugenden Glaube, Hoffnung und Liebe hinzugefügt hätten, habe selbst Jesus keine Fröhlichkeit verlangt, so Alessandri. Er habe seine Anhänger lediglich aufgefordert, nicht deprimiert auszusehen, während sie fasten.

Zu einem Gebot wurde die Fröhlichkeit erst 1908, als der britische Generalleutnant Robert Baden-Powell die Boyscouts gründete, eine Jugendorganisation, die sich auch in den USA schnell verbreitete, einschließlich des Fröhlichkeitsimperativs. 1916 ließen die britischen Boyscouts das Fröhlichkeitsgebot wieder fallen, die Amerikaner aber behielten es bei. Dass es sich nicht nur dort bis heute gehalten hat, sondern in die gesamte amerikanische Kultur und über diesen Zwischenschritt in die ganze Welt diffundiert ist, hat zwei Gründe: Zum Einen sind die USA eine melting pot aus Christentum, Stoizismus, kognitiver Verhaltenstherapie, Kapitalismus und Buddhismus, allesamt Ideologien, in denen "wir zu einem gewissen Grad selbst verantwortlich sind für unsere Einstellungen und letztlich auch unser Glück."

Zum anderen habe Sokrates zu recht gesagt, dass uns anziehe, was wir selbst nicht seien. Auch deshalb werde man in den USA von jedem Kissen und jeder Teetasse aufgefordert, zu lächeln und sich auf die positiven Seiten des Lebens zu konzentrieren: Depressionen, Ruhelosigkeit und Angstzustände seien allgegenwärtig. Während Bücher über die miserable Verfassung der Gegenwart nicht gerade weggingen wie geschnitten Brot, würden Autoren von Fröhlichkeitsratgebern zu Millionären. Alessandri schlägt den Vergleich mit Dänemark vor, statistisch gesehen einem der glücklichsten Ländern der Welt, weit vor den USA: "Ich war in Dänemark und es ist nicht besudelt mit Mitteilungen wie: "Keep calm and focus on cheerfulness."

Wenn Fröhlichkeit zu einem Zwang wird, schreibt Alessandri, sei sie das Gegenteil einer Tugend: Man tische seinen Mitmenschen eine Lüge auf, weil man ihnen nicht zutraue, der Wahrheit gewachsen zu sein. Wenn man hingegen seine Verpflichtungen der Fröhlichkeit gegenüber aufkündige und sein wahre Inneres nach außen trage, setze man sich zwar dem Risiko aus, für seine Gewöhnlichkeit, Menschlichkeit und Sterblichkeit abgeurteilt zu werden. Man gebe aber den anderen die Chance, selbst tugendhaft darauf zu reagieren. Auf diese Weise "hätten wie eine Chance auf echte fraternity."

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